4.21 Eigenprofil der Akteure
Inhaltsverzeichnis
- 1 Aus dem Inhalt
- 2 Praxis - Bitte Ihren Eintrag!
- 2.1 0. Nachträge zur Theorie
- 2.2 1. Entwicklung eines Akteurs
- 2.3 2. Statisch: Keine Entwicklung eines Akteurs
- 2.4 3. Vorstellung / Einführung eines Akteurs
- 2.4.1 3.1 Tolstoj "Anna Karenina"
- 2.4.2 3.2 "Advokat" nach Kafka, "Der Prozess"
- 2.4.3 3.3 Grimmelshausen "Simplicissimus" - ÜBUNG
- 2.4.4 3.4 Kleiner Mann - was nun?
- 2.4.5 3.5 Theaterprogramm
- 2.4.6 3.6 Vorstellung eines Akteurs - oder doch nicht?
- 2.4.7 3.7 S. Lenz, Deutschstunde. 45. Aufl. 2014
- 2.4.8 3.8 Hermann Hesse
- 2.5 4. Kollektiver Akteur
- 2.6 5. Rollen
- 2.7 6. "Freund, follower etc." in Zeiten von facebook usw.
Aus dem Inhalt
Wichtig ist, dass man sich darauf konzentriert zu erheben, wie der Text selbst seine Akteure skizziert. Dazu muss der Leser Wissen, das er aus anderen Quellen bezogen hat, neutralisieren. Verwertbare Hinweise des Textes zählen allein. Oft ist es zudem so, dass sich das Bild eines Akteurs im Verlauf des Textes ändert. Am Textschluss ist er nicht mehr der selbe wie am Anfang.
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Praxis - Bitte Ihren Eintrag!
0. Nachträge zur Theorie
0.1 "Identität"
Schon die SEMANTIK operierte mit diesem Begriff.
Er spielte schon bei Näherbeschreibungen eine Rolle. Und zwar bei verschiedenen Ausprägungen - z.B. bei Appositionen oder Explikationen. Bei der Frage der Determination pflegt man Eigennamen ins Feld zu führen. "Identität" ist auch eine semantische Form der Prädikation
All das konnte wiederbegegnen am Anfang der PRAGMATIK, wenn es galt
Wörtliche Bedeutung kritisch zu durchleuchten. Oder den Zusammenhang mehrerer ÄEen zu erfassen.
Im Sinn der PRAGMATIK jenes Einzeltextes erreicht man nun erst die Etappe, wo im vollen Sinn erst die Identität eines Akteurs fassbar wird. Die Vorausetappen sind wichtig, aber erst 'Zuträger' für das, was textpragmatisch unter der Identität verstanden werden kann.
Wer heutzutage wegen einer Frage bei der Bank anruft, wird auch erst über mehrere Indizien identifiziert - schließlich muss sich die Bank gegen Missbrauch schützen, darf nicht Unbefugten Informationen weitergeben. - Ich gebe meinen Eigennamen durch - werde nach meiner Tel-Nr. gefragt - die Bank kann auf dem Display die Korrektheit überprüfen - ich muss mein Geburtsdatum angeben - und die Kontonummer. - Und wenn ich eine neue PIN für das online- banking erbitte, so wird die an die von der Bank gespeicherte Postadresse gesandt, PIN meint ja "Persönliche Identifizierungsnummer". Aber es bleibt nicht bei der bloßen Nummernüber- mittlung; - Die Postadresse war mal im live-Gespräch von der Bank notiert und durch meine Unterschrift besiegelt worden. All das sind nicht lediglich einzelne Informationen, sondern zugleich ein Netz von Sicherheitsmerkmalen. Indem diese Details alle stimmen, ist der Bank bei meinem Anruf meine Identität - zumindest was finanztechnische Verfahren betrifft - vollkommen gesichert.
Genauso wird auch jenseits der Finanzwelt in anderen Bereichen - persönliche Vorlieben, Beziehungen, Berufsausübung usw. - durch ein Netz von vielen einzelnen Merkmalen die Identität eines Akteurs, sein "Profil", im Text aufgebaut.
0.2 "Ich - Du - Es"
... im Denken Martin Bubers, vgl. [1]
0.3 "männlich - weiblich" - Stellenanzeigen
Unter [2] hatten wir dafür plädiert, die Frage "männlich <-> weiblich" nicht 'unter Niveau' zu behandeln. Dafür ist die Opposition schließlich zu wichtig im täglichen Leben.
Konkret: Irgendwelche Endungen oder Nicht-Endungen an Wörtern - als Beispiel - haben mit der Opposition nichts zu tun, zumindest nichts flächen- deckend Sicheres - ständig gibt es Ausnahmen: ein Wort ohne die erwartete Endung kann dennoch weiblich sein (im alten Grammatiksprech) usw.
Nehmen wir "männlich - weiblich" ernst, dann kommen wir auf vielfältige beschreibbare unterschiedliche Merkmale - von der Biologie über die Psyche bis hin zu Verhaltensweisen. Es kommen also Attribute ins Spiel, also das, was das aktuelle Modul bündelnd erfassen will. Worauf die Grammatiker erst mühsam hingelenkt werden sollen, wird von Werbetextern längst schon praktiziert:[3]
0.4 Unklares Profil
Wolfgang Herrndorf, tschick. Reinbeck 2014 36.Aufl.
(53) Kaltwasser klappte im Vorbeigehen die Tafel auf, zog das Jackett aus und warf es über seinen Stuhl. Kaltwasser war unser Deutschlehrer, und er kam immer ohne Begrüßung in die Klasse, oder zumindest hörte man die Begrüßung nicht, weil er schon mit dem Unterricht anfing, da war er noch gar nicht durch die Tür. Ich muss zugeben, dass ich Kaltwasser nicht ganz begriff. Kaltwasser ist neben Wagenbach der Einzige, der einen okayen Unterricht macht, aber während Wagenbach ein Arschloch ist, also mensch- lich, wird man aus Kaltwasser nicht schlau. Oder ich werde nicht schlau aus ihm. Der kommt rein wie eine Maschine und fängt an zu reden, und dann geht es 45 Minuten superkorrekt zu, und dann geht Kalt- wasser wieder raus, und man weiß nicht, was man davon halten soll. Ich könnte nicht sagen, wie der zum Beispiel privat ist. Ich könnte nicht mal sagen, ob ich ihn nett finde oder nicht. Alle anderen sind sich einig, daß Kaltwasser ungefähr so nett ist wie ein gefrorener Haufen Scheiße, aber ich weiß es nicht. Ich könnte mir sogar vor- stellen, dass er auf seine Weise ganz okay ist, außerhalb der Schule.
0.5 "2.Aktant" = Opferrolle - bisweilen beliebt: Beleidigtsein
Was in [4] für eine Rolle im Satz vorgestellt worden war, kann auch - literarisch oder im realen Leben - zur Selbststilisierung einer Figur eingesetzt werden. Vgl. aus STB 29.10.2016:
"Das Aufregen über vermeintliche Nichtigkeiten spricht im Tieferen vielleicht für das, was Jens Jessen Anfang Oktober in der 'Zeit' als eine Grundstimmung des Beleidigtseins beschrieben hat. Zudem dokumentiert es einen zunehmenden Gefallen an der Einnahme einer Opferrolle, wie der italieni- sche Autor Daniele Giglioli in seinem Anfang des Jahres erschienenen Buch 'Die Opferfalle' ausführt: 'Das Opfer ist der Held unserer Zeit. Opfer zu sein verleiht Prestige, verschafft Aufmerksamkeit. Es immunisiert gegen jegliche Kritik.' Das Internet als Echoraum Die Konsequenz daraus lautet: Die Schuld liegt bei den anderen, nicht bei einem selbst. Der Staat ist schuld. Oder der Nachbar, die Bahn oder der Post- bote. Es ist eine bequeme Position, denn es sind die anderen, die zur Erklärung und Rechtfertigung der eigenen Unzufriedenheit herhalten müssen. Die eigenen Rolle in einem Konflikt wird dabei nicht reflektiert. Man stilisiert sich zum Opfer der Umstände. Eine solche Tendenz könne ein Medium wie das Internet noch verstärken, sagt Ulrich Wagner. Denn aus Sicht des Sozialpsychologen und Kon- fliktforschers der Universität Marburg bietet das Netz für genau diese Art der Kommunikation einen hervorragenden 'Echoraum'. Es gehe weniger um einen Austausch, als um die Bestätigung der eigenen Meinung. 'Es geht nicht darum, ob man im Recht ist, sondern darum, dass man Recht hat.' Das Internet 'verändert die Kommunikation tiefgreifend', sagt Wagner. Er nennt ein Bei- spiel: 'Wenn man im Kreis der Familie wiederholt ein Problem vorträgt, wird vielleicht auch mal jemand sagen, dass man das jetzt bereits zum dritten Mal höre.' Diese Korrektive, 'diese Rückmeldekanäle', zumal von Angesicht zu Angesicht, fehlten heute zunehmend, sagt der Sozialpsychologe. Eine weitere Erklärung der Gereiztheit mag auch in der zunehmenden ökonomischen Bewertung unseres Tuns liegen: Es geht um Effizienz, ums Funktionieren und ums Optimieren."
Anders gesagt: man mache sich klar, was alles zu einem live-Dialog gehört, vgl. [5] samt Unterpunkten, und was man sich real-physisch erspart an Widerstand = Zwang sich umzuorientieren. 'Dominanz des Internet' = Köcheln im selbstgewählten Sud.
1. Entwicklung eines Akteurs
1.1 Film: "Black Swan" (2011)
Bezogen auf Tschaikowskis Ballett "Schwanensee" wird die Vorbereitung einer Neuinszenierung gezeigt. Die Ballerina der Hauptrolle, die sehr gut mit dem "weißen Schwan" zurecht kommt, muss auch die Gegenrolle des "schwarzen Schwans" realisieren. Das fällt ihr sehr schwer, da ihr bisheriges Trachten danach geht, "perfekt" zu sein (was zum Bild des "weißen Schwans" passt: strahlend nur die hellen Seiten des Lebens verkörpernd). Allerdings übersieht/verdrängt sie Signale, dass ihr Körper dabei nicht mitmacht (Verletzungen, merkwürdige Hautausschläge). Außerdem wird ihr vorgehalten, ihre persönliche Ausstrahlung sei langweilig, künstlerisch noch unausgereift. Das passt zum privaten Hintergrund: die Ballerina wohnt immer noch bei der Mutter, wird von ihr dominiert und im Grund als Kleinkind gehalten. Eigene Entwicklung ist damit verhindert. Die Ballerina verinnerlicht die Abwehrhaltung und sträubt sich verschiedentlich gegen Veränderung
Methodisch/grammatisch - vgl. schon in der SEMANTIK: 4.0615 Subjekt / 1.Aktant gesplittet - ist dies bis hierher die Frage, ob das Subjekt als "statisch", unveränderbar anzusehen ist: keine Veränderung, obwohl physisch erwachsen, psychisch immer noch im Kleinkindstadium gehalten und zementiert. - Oder ob "dynamisch" Entwicklung zugelassen wird. Wenn die Rolle/Seite des "Schwarzen Schwans" integriert werden dürfte/könnte, würde die Ballerina sich verändern, würde selbstständig und erwachsen werden.
- Dabei geht es nicht um den klaren Gegensatz: "statisch" vs "dynamisch", denn die Akteurin trägt schon Anzeichen der Weiterentwicklung in sich. Der vermeintliche Hautausschlag - nun wird es nicht medizinisch, sondern filmisch-symbolisch - deutet an, dass die Akteurin die "schwarze" Variante schon in sich trägt ("sprießende schwarze Federn"). Sie nimmt dies nur falsch wahr, behandelt falsch, verdrängt, lässt sie noch nicht zu.
Psychische Störungen (Realitätsverlust) und heftige Provokationen durch den Ballettmeister stoßen schließlich die schon vorbereitete Entwicklung an. Am Ende - Ballettaufführung und Persönlichkeitsbild gehen in einander über - wachsen dem nun auch "schwarzen Schwan" imposante Flügel. Zuvor hatte die Ballerina Symbole ihres Kleinkindseins in den Müllschlucker geworfen. Die früheren Hautausschläge werden nun verstanden als Impulse, dass etwas wachsen wollte, aber nicht durfte (schwarze Federn). Mit der neu erreichten Persönlichkeitsstruktur ("schwarz" nun integriert) ist die Verwundbarkeit vergrößert. Das Ideal "perfekt" hat jetzt keinen Platz mehr. Aber die Ballerina ist im selbstbestimmten Leben angekommen. Ob der Tod am Schluss den realen Tod meint, oder den Tod des bisherigen Ich-Ideals (nur "weißer Schwan" gilt), bleibt offen. Tendenziell gilt aber letztere Deutung.
Ein Übergang von der anfänglichen zur letztlichen Persönlichkeitsstruktur ist immer schmerzhaft und konfliktbeladen. Selbst wenn ein Einzelner - was eher die Ausnahme ist - sich selbst gern verändert, dann stellt er damit für sein Umfeld eine Zumutung dar: auch das Umfeld kann nicht mehr bleiben, wie es bislang war. Solche Widerstände müssen überwunden werden.
2. Statisch: Keine Entwicklung eines Akteurs
2.1 "Makel des Makellosen"
(nach einem Artikel von Magdi Aboul-Kheir in SWP 12.7.11).
(zu Harry Potter:) "Dass er etwas Besonderes ist, bekommt dieser Zauberschüler schon in die Wiege gelegt: in seiner Umgebung wird die ganze Zeit ehrfurchtsvoll geraunt, wie toll Harry ist. Dass er zu guter Letzt als Kämpfer für das Gute triumphieren wird, bezweifelt bei aller Spannung eigentlich auch niemand."
Ähnlich makellos ist der Hobbit Frodo im "Herrn der Ringe", Neo in "Matrix", Anakin Skywalker im "Krieg der Sterne".
"So aufregend diese Filme zuweilen sind, so wenig kümmern uns diese Helden. Dabei ist es gar nicht so, dass sie nichts zu durchleiden hätten, im Gegenteil: Harry, Frodo & Co. kämpfen nicht nur mit mächtigen Gegnern, sondern auch mit ihren eigenen Zweifeln und inneren Dämonen ... aber die Zuschauer wissen: Sie werden ihren Weg schon zu Ende gehen." Solche "Helden" werden vielleicht bewundert, aber nicht geliebt, denn "sie sind zu wenig wie wir normale Menschen".
Als interessante Charaktere werden im Fall der "Harry Potter"-Bände empfunden: "Der edle Sirius Black oder der herzensgute Hüne Hagrid, die trullerige Wahrsagerin Sybill Trelawney oder der abgründige Magier Severus Snape und natürlich Hermine."
2.2 Kritik an der "Erwählung": Josefsgeschichte
Die alttestamentliche Josefsgeschichte (Gen 37-50) führt vor Augen, welche Probleme entstehen, wenn jemand aus unverstandenen Motiven bevorzugt behandelt/erwählt wird. Der junge Josef wird von seinem Vater Israel allen anderen Brüdern vorgezogen. Es genügt, den Anfang nachzulesen: Gen 37,1-10, am besten in der "gereinigten" (d.h. von Zusätzen befreiten) Fassung: [6] (nach der Einleitung: Beginn von Ziff.1 / mit oder ohne Essay)
Die eigentliche Ursache all der Komplikationen ist somit nicht der Traum Josefs (mit angedeuteter Selbst-Unterwerfung der Brüder), sondern zuvor schon die Sonderrolle, die der Vater dem Josef zubilligt. Die ganze Erzählung kreist darum, diese schiefe Ausgangslage zu bewältigen. Mehrfach droht der Konflikt für die Beteiligten tödlich zu werden. Am Schluss ist der Vater tot und die Brüder finden zu neuer Gemeinsamkeit. - Am Beispiel einer Familiengeschichte führt der Text vor, welche Explosivkraft die Denkfigur des "auserwählten Volkes" in sich birgt.
In dem Text entwickelt sich die Figur des Josef sehr wohl. Allein dadurch schon wird die Projektion des Vaters (Josef ist außergewöhnlich) widerlegt. Was überwunden wird, ist das statische "Erwählungs"-Denken. Der Akteur Josef meistert zwar alle Komplikationen letztlich mit Bravour. Aber er behält sein Geheimnis, weil der Text nicht klärt, woher Josef die entscheidenden Fähigkeiten hat. Ein platter Verweis auf "Gott", der Klarheit schaffen würde, fehlt jedenfalls in dem biblischen Text (in seiner Originalfassung). Allenfalls einige beiläufig klingende Verweise dieser Art gibt es, bei denen man z.T. nicht weiß, sind es (nur) rhetorische Tricks oder doch Andeutungen einer wichtigen Triebkraft für Veränderungen.
2.3 Kafka, "Von den Gleichnissen"
Der Text ist abgedruckt in 4.52 Textbeschreibung - anspruchsvoll und spannend Ziff. 2.1. Die dort ebenfalls erwähnte Diss. von Paskoski liefert S.144f eine gute "Akteurs"-Beschreibung, wie sie im aktuellen Modul angestrebt wird. Insgesamt geht es laut Abschnittsüberschrift (in der Diss.) um "Die namenlosen Personen, die gesichtslosen Figuren, und die unbegehbaren Orte":
"Die vielen weisen zunächst nur eine kulissen- hafte Präsenz auf. Wir finden sie nur in der ersten Zeile angezeigt durch das quantifizierende Pronomen. Qualitativ treten sie allein durch ihr Anliegen in Erscheinung. Sie sind es scheinbar auch, die der erste Dialogpartner anspricht und die der andere als Angehöriger der Gruppe zu vertreten scheint. Doch sicher ist das alles nicht. Denn wenn diese vielen nicht in dem wir aufgehen und nur zur Vorgeschichte der Interessen dieser gehören sollten, dann kann es durchaus sein, dass es nicht die vielen, sondern die wir sind, die vom ersten Sprecher ermahnt und vom zweiten vertreten werden. Die Weisen, der Worte nur Gleichnisse sind und unverwendbar im täglichen Leben, sind auch kaum fassbar, sie scheinen ihre Bedeutung allein von der Rolle und der Art ihrer Worte zu beziehen. Als grammatisches Subjekt treten sie nur im Singular auf: es wird nur der Weise genannt, der hier wohl verallgemei- nernd für die in Gleichnissen sprechenden Weisen steht. Erkennbar wird auch, dass sie Erwartungen enttäuschen, und sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, dass ihre Worte und Gedanken keinen prak- tischen Nutzen hätten, obwohl sie dadurch, dass sie scheinbar beraten wollen und befolgt zu werden empfehlen, den Anschein erwecken, einen Nutzen anzustreben.
Wer aber sind wir? Sind das jene vielen, die sich über die Unverwendbarkeit der Gleichnisse beklagen, die von dem einen mit Ihr ange- sprochen werden, zu denen der andere dazugehört, der sich mit dem einen in eine Polemik um die Gleichnisse einlässt? Gehört zu diesen wir auch der Weise, der etwas anderes sagt, als er scheinbar meint? Oder ist mit wir ein jeder gemeint, der sich im man widerspiegelt, um im genannten Beispiel den Worten der Weisen folgend ihre Unwegsamkeit feststellen zu müssen? Wir, so scheint es der sich dazurechnende Erzähler zu wollen, soll all jene einschließen, die Teil des Geschehens in dieser Kurzgeschichte sind. Wir, das sind wir alle: wir, die wir uns darüber beklagen, dass die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse sind; wir, die wir nur dieses, das tägliche Leben haben, und die wir das nicht kennen, was die Worte der Weisen über das Gesagte hinaus meinen; wir, die wir keine Hilfe kennen, was die Worte der Weisen über das Gesagte hinaus meinen; wir, die wir keine Hilfe von dem in diesen Worten Gemeinten erfahren, und die wir mit dem, was die Gleichnisse eigentlich besagen, auf das zurückgeworfen werden, was wir schon wussten, dass nämlich das Unfassbare unfassbar ist; und wir sind wir, die wir uns eigentlich mit anderen Dingen jeden Tag abmühen als dem, was die Gleichnisse besagen. Wir - so scheint es - sind auch wir Weisen, die wir Worte aussprechen, mit denen wir etwas anderes meinen, als sie wört- lich zu besagen scheinen, Worte, die Gleichnisse sind, Gleichnisse bleiben, und als solche erkannt werden müssen; wir sind auch wir, die wir das Gleichnis wörtlich nehmend zum Beispiel auf die andere Straßenseite gehen und damit zeigen, dass dies zu leisten ist, aber wenig nutzt und dass daher mit dem 'Geh hinüber' nicht das gemeint sein kann. Zu wir und sich im anonymen man spie- gelnd gehören wohl auch der eine, der im Namen der Weisen Euch, und damit wohl uns alle mit einem weiteren Gleichnis belehren und instruieren möchte, sowie der andere, der diesen kritisiert und die wir-Gruppe der Klagenden zu vertreten scheint. Das wir ist ein grundlegendes wir, in dem alle nach Interessens- und Gesellschafts- gruppen oder Lebensgemeinschaften gebildeten wirs aufgehen, es ist zugleich das separate wir einer jeden Gruppe und stellt das man als Position zur Verfügung, dessen Stelle jedes Individuum dieser anonymen Personengruppen einnehmen kann. So hat das wir zusammen mit dem man eine Vexierbild- funktion, es lässt räumliche und 'ideologische' Zugehörigkeiten erkennen. Er stellt eine Ordnung der Personen und ihrer Zugehörigkeiten her, die sich um eine bewegliche Achse, die es bildet, gruppieren. ...
Es würde ja alles noch mal ein Stückchen klarer, wenn man wüsste, wie man sich diese wenigen Orte vorstellen soll. Schon der Raum, in dem sich die Stimme des Erzählers ausdehnt, weist keine Kon- turen auf, man weiß nicht, was das Erinnerte ein- schließt, wo sich das Gesagte einfügt und wovon das Sagen selbst umgeben ist. Wenn man dann auch wüsste, welche gedachten oder gelebten, gewünsch- ten und erträumten, bildlosen aber sag- oder wenigstens nennbaren Räume das 'sagenhafte Drüben' bezeichnen soll, das durch 'Gehe hinüber' impliziert wird, in dem man selbst beim Eintritt zum Gleichnis würde, und das vielleicht dadurch zu erreichen ist, dass man den Gleichnissen folgt, dann wäre ein Schritt getan. Und wüsste man noch, wo der andere diesem irgendwie gegenüber liegende Ort zu finden ist, den man zu kennen scheint, mit hier angezeigt, und der sich diesseits des sagenhaften Drüben befindet, wo die Gleichnisse und die Rede vom sagenhaften Drüben nichts helfen können, dann wäre ... "
Ungeheuer, welche Gedankenarbeit Kafka durch seinen kurzen Text anstößt. Zugleich streift die zitierte Analyse viele Module der "Alternativ-Grammatik": Determination, Wechselspiel von wörtlicher und gemeinter Bedeutung, Implikationen, Deixis-Topologie, Dialog (geschachtelt: von der Erzählebene bis zu Akteuren im Text) usw.
2.4 Sozialistischer Realismus
"In den 1930er Jahren hält unter Stalin der sogenannte Sozialistische Realismus Einzug in Sowjetrussland: treuherzige Bilder mit glück- lichen, vor Gesundheit strotzenden Sowjetmen- schen und bombastische Porträts der Sowjetführer. ... Realsozialistische Maler sollen 'das Leben im revolutionären Wandel' darstellen: im Mittelpunkt hat ein positiver Held zu stehen. Jedes Abweichen von diesem Dogma gilt als Subversion. Stalins Ideologen erklären die Avantgarde zu volksfremden 'Formalisten', sprich: zur entarteten bürgerlichen Kunst."
Später, unter Chruschtschow, soll die "andere" Kunst durchaus wieder zur Geltung kommen. Das klappt aber nicht gleich, denn der Kremlchef, der eigentlich die Ausstellung eröffnen soll
"... wettert aber stattdessen gegen die 'Kinder- schänder und Abstraktionisten'." Wieder folgen Jahre der Verfemung. "...bis schließlich die so genannte 'Bulldozzer'-Ausstellung im Jahr 1974 folgt. Die unter freiem Himmel ausgestellten Werke werden durch die Obrigkeit mit Planier- raupen beseitigt. Wegen der Anwesenheit von zahlreichen westlichen Korrespondenten ist das internationale Echo aber für Moskaus Ansehen verheerend." (Baedecker, Moskau, 2011. 12.Aufl. S.47.49)
2.5 "Tatort"
Laut einem Pressebericht fand eine Untersuchung der vielen "Tatort"-Krimis heraus, dass die oft über lange Zeit gleichen Ermittlerteams zwar - natürlich - älter werden. Aber als Figuren entwickeln sie sich nicht. D.h. mit Ende des einen "Tatorts" werden die Figuren "wieder auf Null gestellt" und beginnen die nächste Folge als die gleichen Figuren wie zuvor. Das hat als Nebeneffekt, dass die Zuschauer immer wissen, "woran sie sind", wenn eine neue Folge ausgestrahlt wird. Man kann es auch so sagen: die Vertrautheit mit den etablierten Klischees beruhigt. Unerwartete Veränderungen verarbeiten, mitdenken - das wird nicht verlangt. - Dieser Mief ist günstig für die Quote ...
2.6 NAZI-Klischee - kabarettistisch
Anlässlich des publik gewordenen burnout des NPD-Chefs (so zumindest die offizielle Begründung für seinen Rücktritt) lieferte Silke Burmester auf SPIEGEL-online (22.12.2013) ein - satirisches - Nazi-Akteursprofil:
So ein Führerleben ist anstrengend Nach ein paar Minuten weiteren Nachdenkens ist mir klar geworden, dass das Dasein als Nazi - und besonders als Naziführer - nicht ohne ist. Man darf das nicht unterschätzen - so ein Führerleben ist echt anstrengend. Den ganzen Tag den Arm hoch- halten und immer an die alten Ostgebiete denken. Und vor allem: Der Beste sein wollen! Muss man als Nazi böse gucken, muss man als Führer noch böser gucken. Kommt man als Führer mit zum "Kanaken-Klat- schen", muss man mehr Türken schlagen als die anderen. Und auch mehr Bier saufen.
Und dann muss man auf den Versammlungen immer brüllen. So Nazis wollen ja angeschrien werden. Dass einer einfach zu ihnen spricht, reicht denen ja nicht. Die wollen es laut. Und es sind ja auch nicht die Klügsten, von denen einer wie Apfel das Wort ergreift. Entsprechend muss er seine ganzen Fantasien von Überfremdung, Frauenklau und das Repertoire der Ressentiments obendrein in ein- facher Sprache vorbereiten. Das kostet viel, viel Energie.
Und dann die Ernährung! Jeden Tag Erbsensuppe! Und wenn keine Erbsensuppe, dann gibt es Schweine- bauch, Biergulasch oder Teichelmauke. Während andere Burnout-Kandidaten diesen Teil ihrer Proble- matik aktiv angehen können, muss so ein Nazi zur leichten, gesunden, mediterranen Küche immer Nein! sagen. Da gibt es keinen in Olivenöl gedünsteten Schwertfisch mit Fenchel-Orangengemüse oder mal ein Salat Niçoise. Da gibt es Pfannkuchen und Milchreis. Maultaschen und Grützwurst.
2.6 Komponist Richard Wagner
nach J. Köhler, Der Letzte der Titanen. Richard Wagners Leben und Werk. München 2001. S.387:
"Wagner erging es wie Schellings Gott. Ganz Wille und Schaffenslust, warf er er (!) den Lichtstrahl seiner Erleuchtungen ins Dunkel des Publikums. Traf er auf Gegenliebe, fühlte er den Himmel auf Erden. Ein Dialog mit seinem Gegenüber stand allerdings nicht auf dem Plan. Wagner war immer der Gebende, der auf die Sehnsucht der Nehmenden hoffte. Empfing die Menschheit seine Ideen und Werke wie göttlichen Samen, konnte auch das gemeinsame Menschheits- kunstwerk geboren werden."
3. Vorstellung / Einführung eines Akteurs
3.1 Tolstoj "Anna Karenina"
Man liest den Roman über 90 S. lang und von der Figur, die dem Buch den Titel gab, ist keine Spur zu erkennen. Dann - ohne Namensnennung - eine ausführliche Beschreibung. Es sind 4.03 Bedeutungsgruppen /allgemein - auf semantischer und pragmatischer Ebene. Dadurch ahnt der Leser: das muss sie ja wohl sein. Wenig später wird der Eindruck bestätigt.
aus: Lew Tolstoj, Anna Karenina. Hg.v. G. Drohla.insel 2010.S.95: Wronskij folgte dem Zugführer in den Waggon und blieb am Eingang stehen, um eine aussteigende Damen vorbeizulassen. Mit dem erfahrenen Auge des Weltmanns hatte Wronskij mit einem Blick auf das Äußere dieser Dame gesehen, daß sie zu den höchsten Gesellschaftskreisen gehörte. Er entschuldigte sich und wollte in den Waggon gehen, aber er mußte sich unbedingt noch einmal nach ihr umsehen, nicht, weil sie sehr schön war, auch nicht wegen der Eleganz und schlichten Anmut ihrer ganzen Gestalt, sondern weil in dem Ausdruck ihres lieblichen Gesichts etwas besonders Angenehmes und freundliches gewesen war, als sie an ihm vorüber- ging. Als er sich umschaute, wandte sie sich auch gerade um. Die leuchtenden, grauen Augen, die wegen der dichten Wimpern dunkel wirkten, richteten sich freundlich und aufmerksam auf sein Gesicht, als ob sie ihn erkenne, wandten sich dann aber sofort der vorüberströmenden Menge zu, wie wenn sie dort jemand suchten. In diesem kurzen Blick hatte Wronskij die verhaltene Lebhaftigkeit bemerkt, die auf ihrem Gesicht spielte und zwischen den blitzen- den Augen und den roten, leise lächelnden Lippen hin und her huschte. Es war, als sei ihr ganzes Wesen übervoll von Lebenslust, die sich unwill- kürlich bald in dem Leuchten ihrer Augen, bald in ihrem Lächeln ausdrückte. Und wenn sie diesen Glanz in ihren Augen absichtlich dämpfte, dann leuchtete er gegen ihren Willen in dem kaum merk- lichen Lächeln auf.
Wenig später - inzwischen hat man den Namen erfahren - werden die Beschreibungen fortgeführt (S.120)
Anna war nicht in Lila, wie Kitty es unbedingt gewollt hatte, sondern in einem tief ausgeschnit- tenen schwarzen Samtkleid, das ihre wie aus altem Elfenbein geschnitzten vollen Schultern, die Büste, und die runden Arme mit den zarten, schmalen Hand- gelenken sehen ließ. Das ganze Kleid war mit vene- zianischer Guipurespitze besetzt. Auf dem Kopf in dem schwarzen Haar - es war nur ihr eigenes Haar - trug sie eine kleine Girlande von Stiefmütterchen und eine zweite an dem schwarzen Gürtelband zwischen den weißen Spitzen. Ihre Frisur war nicht auffallend. Auffallend waren nur die eigenwilligen, kurzen schwarzen Ringel des lockigen Haars, die sich im Nacken und an den Schläfen vordrängten, sie aber noch schöner machten. Um den glatten, kräftigen Hals trug sie eine Perlenkette.
3.2 "Advokat" nach Kafka, "Der Prozess"
Ein "Advokat" ist - von Lateinischen her - ein "Hinzugerufener", einer der Beistand im juristischen Verfahren geben soll (und dafür ja auch bezahlt wird). "Josef K." macht eine andere Erfahrung:
(218) "Ich ging also zum Advokaten und beklagte mich. Er gab mir zwar lange Erklärungen, lehnte es aber entschieden ab, etwas in meinem Sinne zu tun, niemand habe Einfluß auf die Festsetzung der Ver- handlung, in einer Eingabe darauf zu dringen - wie ich es verlangte - sei einfach unerhört und würde mich und ihn verderben. Ich dachte: was dieser Advokat nicht will oder kann, wird ein anderer wollen und können. Ich sah mich also nach andern Advokaten um. Ich will es gleich vorweg- nehmen: keiner hat die Festsetzung der Hauptver- handlung verlangt oder durchgesetzt, es ist, allerdings mit einem Vorbehalt, von dem ich noch sprechen werde, wirklich unmöglich, hinsichtlich dieses Punktes hat mich also dieser Advokat nicht getäuscht."
Das Nomen "Advokat" ist also eine Berufsbezeichnung, definiert eine Person von ihrer Tätigkeit her, vgl. 4.13 Abstrakta. Wenn aber genau diese Tätigkeit entrüstet zurückgewiesen wird, gilt nur das Fazit: Beruf verfehlt! - Damit hat der Autor Kafka eine weitere Störung in seinen Roman eingebaut, die erzwingt, eine übertragene Bedeutung abseits der juristischen Ebene (=Wortsinn") zu suchen, vgl. 4.113 Übertragener Sprachgebrauch - Übergang zur gemeinten Bedeutung
(222) "...So lieb er ist, so geschwätzig ist er. Vielleicht mag ihn der Advokat auch deshalb nicht leiden. Jedenfalls empfängt er ihn nur, wenn er in Laune ist. Ich habe mir schon viel Mühe gegeben, das zu ändern, aber es ist unmöglich. Denke nur, manchmal melde ich Block an, er empfängt ihn aber erst am dritten Tag nachher. Ist Block aber zu der Zeit, wenn er vorgerufen wird, nicht zu Stelle, so ist alles verloren und er muß von neuem angemeldet werden. Deshalb habe ich Block erlaubt, hier zu schlafen, es ist ja schon vorgekommen, daß er in der Nacht um ihn geläutet hat. Jetzt ist also Block auch in der Nacht bereit. Allerdings ge- schieht es jetzt wieder, daß der Advokat, wenn sich zeigt, daß Block da ist, seinen Auftrag, ihn vorzulassen, manchmal widerruft."
Wieder: "Advokat" mit verfehlter Berufsauffassung. Launisch, unberechenbar, arbeitsscheu - derartige Attribute führen bei diesem Beruf in ein Paradox. Also literarisch wieder das Thema Störung als stilistischer Impuls.
(229) "... Niemals früher hatte ich so große Sorgen wegen des Prozesses wie seit der Zeit, seitdem Sie mich vertreten. Als ich allein war, unternahm ich nichts in meiner Sache, aber ich fühlte es kaum, jetzt dagegen hatte ich einen Vertreter, alles war dafür eingerichtet, daß etwas geschehe, unaufhör- lich und immer gespannter erwartete ich Ihr Ein- greifen, aber es blieb aus. Ich bekam von Ihnen allerdings verschiedene Mitteilungen über das Gericht, die ich vielleicht von niemandem sonst hätte bekommen können. Aber das kann mir nicht genügen, wenn mir jetzt der Prozeß förmlich im Geheimen immer näher an den Leib rückt." K. hatte den Sessel von sich gestoßen und stand, die Hände in den Rocktaschen, aufrecht da. "Von einem gewis- sen Zeitpunkt der Praxis an," sagte der Advokat leise und ruhig, "ereignet sich nichts wesentlich Neues mehr. Wie viele Parteien sind in ähnlichen Stadien der Prozesse ähnlich wie Sie vor mir ge- standen und haben ähnlich gesprochen." "Dann haben," sagte K., "alle diese ähnlichen Parteien ebenso recht gehabt wie ich. Das widerlegt mich gar nicht." "Ich wollte Sie damit nicht widerlegen," sagte der Advokat, "ich wollte aber noch hinzufügen, daß ich bei Ihnen mehr Urteilskraft erwartet hätte als bei andern, besonders da ich Ihnen mehr Ein- blick in das Gerichtswesen und in meine Tätigkeit gegeben habe, als ich es sonst Parteien gegenüber tue. Und nun muß ich sehn, daß Sie trotz allem nicht genügend Vertrauen zu mir haben. Sie machen es mir nicht leicht." Wie sich der Advokat vor K. demütigte!
Dem Schlusssatz ist nichts hinzuzufügen. - Schon durch die angeführten Zitate bekommt der Textakteur "Advokat" sein spezifisches Profil, das im aktuellen Roman gilt - und hoffentlich nicht im realen Leben außerhalb ...! Aber im Roman ist die Akteurszeichnung über viele Einzelattribute und -handlungen stimmig und insgesamt derartig im Widerspruch zur offiziellen Berufsbezeichnung, dass daraus ein massiver stilistischer Impuls resultiert, es ja nicht bei der (juristischen) Wortbedeutung zu belassen, sondern sie zu überwinden in Richtung "gemeinte Bedeutung". 'Hilfloser Helfer' fällt einem als Schlagwort ein.
3.3 Grimmelshausen "Simplicissimus" - ÜBUNG
Das "Ich" hat einen auffallenden Charakter, sei es angesichts von Gräueln des Dreißigjährigen Kriegs - vgl.[7] -, sei es angesichts einer Tanzveranstaltung - vgl. [8]. Das sollte man näher beschreiben!
3.4 Kleiner Mann - was nun?
Im Roman von H. Fallada, 4.Aufl. 2012 Berlin, kommt die Mutter, Frau Pinneberg, des jung verheirateten Mannes zum erstenmal zu Besuch - es sind aber nur die Schwiegertochter und das Neugeborene anwesend. Die Charakterisierung des eigenen Sohnes durch die Großmutter ist recht eigenartig (336). Zugleich charakterisiert sich die Frau dadurch selbst - und der Erzähler geht selbst auf Distanz zu dieser Figur:
Frau Pinneberg ist mit der Besichtigung des Kindes fertig. "Was ist das? Junge oder Mädel? "Ein Junge", sagt Lämmchen. "Horst." "Also doch!" sagt Frau Marie Pinneberg. "Ich habe es mir gleich gedacht. Er sieht genauso wenig intelligent aus wie sein Vater. Nun, wenn es dir Spaß macht." Lämmchen schweigt. "Mein liebes Kind", sagt Frau Pinneberg, macht ihr Jackett auf und setzt sich, "es hat gar keinen Sinn mit mir zu schmollen. Ich sage dir doch, was ich denke. Da steht ja auch die köst- liche Frisiertoilette. Scheint euer einziges Möbelstück zu bleiben. Manchmal denke ich, man müßte netter zu dem Jungen sein, er ist geistig nicht normal. Frisiertoilette ...", sagt sie und sieht das arme Dings an, ein Wunder, daß die Furniere nicht blasig werden von soviel Blick.
NB. der Verweis auf "Frisiertoilette" spielt einerseits auf die extreme Armut des Paares an - das sich aber in einem Anflug von Unvernunft (die ja zur Liebe gehört) einmal dieses Möbelstück gegönnt hatte.
3.5 Theaterprogramm
... analog auch Konzertprogramm. Dem Standardmuster derartiger Vorstellungen nach kann man lesen:
Regisseur N.N. studierte Germanistik, Romanistik und Philosophie in Köln und Rom. Nach ersten Regie- arbeiten in Göttingen, Basel, Meiningen und Dortmund war er von 1996-2000 Hausregisseur und Mitglied der Schauspieldirektion am Staatstheater N.N. Seine für die Expo 2000 in Hannover entstandene Inszenierung von "Chroma" von Werner Fritsch wurde 2001 zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Von 2002 bis 2004 war N.N. zunächst Oberspielleiter in Freiburg dann bis 2006 Hausregisseur und Mitglied der künst- lerischen Leitung. 2006 mehrfache Nominierung als bester Opernregisseur für "Lady Macbeth von Mzensk" von Schostakowitsch in der Zeitschrift "Opernwelt" [...]
Die Beschreibung geht nochmals so lange weiter. Im Wortsinn handelt es sich um eine komprimierte Künstlerbiografie. Die Frage, was der theaterinteressierte Zuschauer davon hat, sollte man sich allerdings auch stellen. Vgl. [9]
3.6 Vorstellung eines Akteurs - oder doch nicht?
Wolfgang Herrndorf, tschick. Reinbeck 2014 36.Aufl.
(23) Tatjana heißt mit Vornamen Tatjana und mit Nachnamen Cosic. Sie ist vierzehn Jahre alt und 1,65m groß, und ihre Eltern heißen mit Nachnamen ebenfalls Cosic. Wie sie mit Vornahmen heißen, weiß ich nicht. Sie kommen aus Serbien oder Kroatien, jedenfalls kommt der Name daher, und sie wohnen in einem weißen Mietshaus mit vielen Fenstern - badabim, badabong. Schon klar: Ich kann hier noch lange rumschwafeln, aber das Erstaun- liche ist, dass ich überhaupt nicht weiß, wovon ich rede. Ich kenne Tatjana überhaupt nicht. Ich weiß über sie, was jeder weiß, der mit ihr in eine Klasse geht. Ich weiß, wie sie aussieht, wie sie heißt und dass sie gut in Sport und Englisch ist. Und so weiter. Dass sie 1,65m groß ist, weiß ich vom Tag der Schuluntersuchung. Wo sie wohnt, weiß ich aus dem Telefonbuch, und mehr weiß ich praktisch nicht. Und ich könnte logisch noch ihr Aussehen ganz genau beschreiben und ihre Stimme und ihre Haare und alles. Aber ich glaube, das ist überflüssig. Weil, kann sich ja jeder vorstellen, wie sie aussieht: Sie sieht super aus. Ihre Stimme ist auch super. Sie ist einfach insgesamt super. So kann man sich das vorstellen.
Alte Erfahrung: Wo die (Liebes-)Hormone tanzen, ist keine distanzierte Beschreibung möglich...
3.7 S. Lenz, Deutschstunde. 45. Aufl. 2014
(149f) Also dieser Asmus Asmussen, der auf einem Vorpostenboot in der Nordsee Dienst tat, war auf einen Kurzurlaub von Bremerhaven heraufgekommen. Er war ein säbelbeiniger Mann mit starkem, gewisser- maßen lohendem Haarwuchs, seine Halsmuskeln waren erschreckend ausgebildet wie bei einem Gewicht- heber. Der Blick beherrschte alle Spielarten zwi- schen kühn und gütig, und man hätte sich ihn nicht ohne weiteres als Schöpfer von Timm und Tine vor- stellen können, wenn da nicht sein aufschlußrei- cher Mund gewesen wäre, ein empfindsamer, rund- licher Pfennigmund, will ich mal sagen. Der Mund verriet ihn. Geschickt zog er sich die Matrosen- mütze mit den langen Bändern vom Kopf, hielt sie vorschriftsmäßig, Kokarde und Adler nach vorn, unterm Arm und ließ sich von meinem Großvater will- kommen heißen. Er nickte fast zu jedem Satz des Willkommens. Er schien einverstanden damit, daß Per Arne Scheßel ihn einen intimen Kenner der Heimat nannte, dann einen wehrhaften Vorposten der Heimat, auch erhob er keine Einwände, als man in ihm den Gestalter von einheimischem Schicksal und schließlich sogar das Gewissen von Glüserup be- grüßte. Asmus Asmussen nickte nur, und er lächelte zustimmend, als mein Großvater das Thema des Abends bekanntgab, zu dem ein Berufener sich äußern werde; das Thema hieß: 'Meer und Heimat'; der Berufene: Asmus Asmussen.
3.8 Hermann Hesse
- für die 'Meisterin' im Text gelten zunächst die vielen Beschreibungen. Verstärkte Näherbeschreibung kann letztlich ein Hinführen auf Liebe sein;
- zugleich wirken die Näherbeschreibungen natürlich auf die Leser/Hörer der Erzählung: auch bei ihnen wird eine stärkere Beziehung zum Akteur damit aufgebaut.
aus: H. Hesse, Meister-Erzählungen. Frankfurt 1973. S.329, 'Knulp'
"Die Meisterin, mit dem leeren Teller in der Hand, warf einen Blick auf den Schläfer, dessen Kopf auf dem halb vom blaugewürfelten Hemdärmel bedeckten Arme lag. Und da ihr die Feinheit des dunklen Haa- res und die fast kindliche Schönheit des sorgenlo- sen Gesichts auffiel, blieb sie eine Weile stehen und sah sich den hübschen Burschen an, von dem ihr der Meister viel Wunderliches erzählt hatte. Sie sah über den geschlossenen Augen die dichten Brauen auf der zarten, hellen Stirn und die schmalen, doch braunen Wangen, den feinen, hellroten Mund und den schlanken Hals und alles gefiel ihr wohl, und sie dachte an die Zeit, da sie als Kellnerin im Ochsen je und je in Frühlingslaunen sich von einem solchen fremden, hübschen Buben hatte liebhaben lassen."
Aus 'Kinderseele' - gut nachvollziehbar, wie durch Beschreibung die Figur "Oskar Weber" für allmählich ein griffiges Profil beommt.
(380) "... waren meine Gedanken mit Oskar Weber beschäftigt. Ich fühlte, daß ich ihn nicht liebte, obwohl sein gutmütiges Gesicht, das mich an eine Waschfrau erinnerte, mir sympathisch war. Was mich zu ihm hinzog, war nicht seine Person, sondern etwas anderes, ich könnte sagen, sein Stand - es war etwas, das er mit fast allen Buben von seiner Art und Herkunft teilte: eine gewisse freche Lebenskunst, ein dickes Fell gegenüber Gefahr und Demütigung, eine Vertrautheit mit den kleinen praktischen Angelegenheiten des Lebens, mit Geld, mit Kaufläden und Werkstätten, Waren und Preisen, mit Küche und Wäsche und der- gleichen. Solche Knaben wie Weber, denen die Schläge in der Schule nicht weh zu tun schienen und die mit Knechten, Fuhrleuten und Fabrikmädchen verwandt und befreundet waren, die standen anders und gesicherter in der Welt als ich; sie waren gleichsam erwachsener, sie wußten, wieviel ihr Vater am Tag verdiene, und wußten ohne Zweifel auch sonst noch vieles, worin ich unerfahren war. Sie lachten über Ausdrücke und Witze, die ich nicht verstand. Sie konnten überhaupt auf eine Weise lachen, die mir versagt war, auf eine dreckige und rohe, aber unleugbar erwachsene und 'männliche' Weise. Es half nichts, dass man bes- ser als sie gekleidet, gekämmt und gewaschen war. Im Gegenteil, eben diese Unterschiede kamen ihnen zugute. In die 'Welt', wie sie mir im Dämmerschein und Abenteuerschein vorschwebte, schienen mir solche Knaben wie Weber ganz ohne Schwierigkeiten eingehen zu können, während mir die 'Welt' so sehr verschlossen war und jedes ihrer Tore durch unendliches Älterwerden, Schulesitzen, durch Prüfungen und Erzogenwerden mühsam erobert werden mußte. Natürlich fanden solche Knaben auch Huf- eisen, Geld und Stücke Blei auf der Straße, bekamen Lohn für Besorgungen, kriegten in Läden allerlei geschenkt und gediehen auf jede Weise."
4. Kollektiver Akteur
4.1 "Beamte" - nach Kafka, "Der Prozess"
nach DTV-Ausgabe von 1998:
(62) Hatte er die Leute nicht richtig beurteilt? Hatte er seiner Rede zuviel Wirkung zugetraut? Hatte man sich verstellt, solange er gesprochen hatte, und hatte man jetzt, da er zu den Schluß- folgerungen kam, die Verstellung satt? Was für Gesichter rings um ihn! Kleine schwarze Äuglein huschten hin und her, die Wangen hingen herab wie bei Versoffenen, die langen Bärte waren steif und schütter, und griff man in sie, so war es, als bilde man bloß Krallen, nicht als griffe man an Bärte. Unter den Bärten aber - und das war die eigentliche Entdeckung, die K. machte - schimmer- ten am Rockkragen Abzeichen in verschiedener Größe und Farbe. Alle hatten diese Abzeichen, soweit man sehen konnte. Alle gehörten zueinander, die scheinbaren Parteien rechts und links, und als er sich plötzlich umdrehte, sah er die gleichen Ab- zeichen am Kragen des Untersuchungsrichters, der, die Hände im Schoß, ruhig hinuntersah. "So," rief K. und warf die Arme in die Höhe, die plötzliche Erkenntnis wollte Raum, "ihr seid ja alle Beamte, wie ich sehe, ihr seid ja die korrupte Bande, gegen die ich sprach, ihr habt euch hier gedrängt, als Zuhörer und Schnüffler, habt scheinbar Parteien gebildet, und eine hat applaudiert, um mich zu prüfen, ihr wolltet lernen, wie man Unschuldige verführen soll. Nun, ihr seid richtig nutzlos hier gewesen, hoffe ich, entweder habt ihr euch darüber unterhalten, daß jemand die Verteidigung der Un- schuld von euch erwartet hat, oder aber - laß mich oder ich schlage," rief K. einem zitternden Greis zu, der sich besonders nahe an ihn geschoben hatte - "oder aber ihr habt wirklich etwas gelernt.
Dumpfer Korpsgeist, Heimtücke, verstaubte, vergreiste Lebensferne - mit solchen Merkmalen sieht Protagonist "K." seinen kollektiven Gegner ausgestattet.
(183f) [K. an Maler Titorelli gerichtet:] "Sie kennen ja gewiß das Gericht viel besser als ich, ich weiß auch nicht viel mehr, als was ich darüber, allerdings von ganz verschiedenen Leuten, gehört habe. Darin stimmten aber alle überein, daß leicht- sinnige Anklagen nicht erhoben werden, und daß das Gericht, wenn es einmal anklagt, fest von der Schuld des Angeklagten überzeugt ist und von dieser Überzeugung schwer abgebracht werden kann." "Schwer?" fragte der Maler und warf eine Hand in die Höhe. "Niemals ist das Gericht davon abzubrin- gen. Wenn ich hier alle Richter nebeneinander auf eine Leinwand male und Sie werden sich vor dieser Leinwand verteidigen, so werden Sie mehr Erfolg haben, als vor dem wirklichen Gericht." "Ja," sagte K. für sich und vergaß, daß er den Maler nur hatte ausforschen wollen.
"Richten" meint ja abwägen, gegensätzliche Meinungen, Indizien, Argumentationsgänge zu prüfen. Aber dieses "Gericht" leugnet seine Grundfunktion und ist vollkommen festgelegt in seinem Urteil. Wieder ein stilistischer Impuls, über dieses Paradox hinauszugehen, vgl. 4.113 Übertragener Sprachgebrauch - Übergang zur gemeinten Bedeutung
(186) [Maler:] "Fällt es Ihnen nicht auf, daß ich fast wie ein Jurist spreche? Es ist der ununter- brochene Verkehr mit den Herren vom Gericht, der mich so beeinflußt. Ich habe natürlich viel Ge- winn davon, aber der künstlerische Schwung geht zum großen Teil verloren." "Wie sind Sie denn zum erstenmal mit den Rich- tern in Verbindung gekommen?" fragte K., er wollte zuerst das Vertrauen des Malers gewinnen, bevor er ihn geradezu in seine Dienste nahm. "Das war sehr einfach," sagte der Maler, "ich habe diese Verbindung geerbt. Schon mein Vater war Gerichts- maler. Es ist das eine Stellung, die sich immer vererbt. Man kann dafür neue Leute nicht brauchen. Es sind nämlich für das Malen der verschiedenen Beamtengrade so verschiedene, vielfache und vor allem geheime Regeln aufgestellt, daß sie überhaupt nicht außerhalb bestimmter Familien bekannt werden. Dort in der Schublade z.B. habe ich die Aufzeich- nungen meines Vaters, die ich niemandem zeige. Aber nur wer sie kennt, ist zum Malen von Richtern befä- higt. Jedoch selbst wenn ich sie verlieren würde, blieben mir noch so viele Regeln, die ich allein in meinem Kopfe trage, daß mir niemand meine Stellung streitig machen könnte. Es will doch jeder Richter so gemalt werden, wie die alten großen Richter gemalt worden sind, und das kann nur ich."
Eine böse Satire auf die geschlossene, narzisstische Gruppe, die nach alten hierarchischen Regeln strukturiert ist - aber unfähig/unwillig ist, ein transparentes, die Rechte des Angeklagten berücksichtigendes Verfahren durchzuführen. Angesichts der Juristen geht "der künstlerische Schwung ... verloren", d.h. Fantasie und Lebendigkeit. Diese Truppe ist "tot", und K., der Angeklagte, wird es am Ende auch sein.
(253)"Weißt du, daß dein Prozeß schlecht steht?" fragte der Geistliche. "Es scheint mir auch so," sagte K. "Ich habe mir alle Mühe gegeben, bisher aber ohne Erfolg. Allerdings habe ich die Eingabe noch nicht fertig." "Wie stellst du dir das Ende vor?" fragte der Geistliche. "Früher dachte ich, es müsse gut enden," sagte K. "jetzt zweifle ich daran manchmal selbst. "Ich weiß nicht, wie es enden wird. Weißt du es?" "Nein," sagte der Geistliche, "aber ich fürchte, es wird schlecht enden. Man hält dich für schuldig. Dein Prozeß wird vielleicht über ein niedriges Gericht gar nicht hinauskommen. Man hält wenigstens vorläufig deine Schuld für erwiesen." "Ich bin aber nicht schuldig," sagte K. "Es ist ein Irrtum. Wie kann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein: Wir sind hier doch alle Menschen, einer wie der andere." "Das ist richtig," sagte der Geistliche, "aber so pflegen die Schuldigen zu reden."
Damit wechselte auch der Theologe ins Lager der anonymen Richter.
4.2 "Das Gericht" - nach Kafka, "Der Prozess" / verschiedene Perspektiven
Nachfolgende Aufstellung macht bewusst, dass ein Akteur in einem Roman nicht ein einheitliches Erscheinungsbild haben muss. Von verschiedenen weiteren Akteuren wird er u.U. unterschiedlich beurteilt und gesehen. Joffrey Fitz hat durch eigene Analysen und durch Zusammentragen von Ergebnissen der Sommerakademie Blaubeuren (2012) sichtbar gemacht, wie "das Gericht" von den einzelnen Akteuren gesehen wird. (Der Romantext nachlesbar im Modul 012)
"Das Gericht" aus der Sicht des Erzählers: [10]] "Das Gericht" aus der Sicht des K.: [11]] "Das Gericht" aus der Sicht des Mitangeklagten Block: [12]] "Das Gericht" aus der Sicht des Malers Titorelli: [13]]
5. Rollen
Ein Akteur kann viele "Rollen" haben. Sie werden ihm durch die gesellschaftliche Vernetzung auferlegt/angeboten usw. Ein Mann ist zunächst Individuum mit eigener Biografie, dann aber auch z.B. Ehemann, Vater, Angestellter, Sportler, Lokalpolitiker, ab und zu Stimmbürger, Verkehrsrowdy, Steuerzahler, Leserbriefschreiber usw. - Zum einzelnen Menschen können also Klassen gebildet werden. Und hie und da fällt es dem Individuum schwer, zwischen den einzelnen Rollen hin- und herzuschalten, also den unterschiedlichsten Erwartungen, die mit den Rollen verbunden sind, gerecht zu werden.
5.1 L. Tolstoj, "Anna Karenina"
aus: Lew Tolstoj, Anna Karenina. Hg.v. G. Drohla.insel 2010.S. 432: Der Gedanke an ihren Sonn riß Anna aus der hoffnungs- losen Lage, in der sie sich befand. Sie besann sich auf die Rolle der nur für ihren Sohn lebenden Mutter, die sie in den letzten Jahren zum Teil ganz auf- richtig, wenn auch sehr übertrieben gespielt hatte, und fühlte voller Freude, daß es in ihrer jetzigen Lage doch noch eine Macht gab, die von ihrem Ver- hältnis zu ihrem Mann und zu Wronskij unabhängig war. Diese Macht war ihr Sohn. Wie ihre eigene Lage sich auch gestalten mochte, ihren Sohn konnte sie nicht verlassen. Mochte ihr Mann sie der Schande preisgeben, mochte Wronskij gegen sie kalt werden und sein unabhängiges Leben weiterführen (wieder dachte sie mit Bitterkeit und Vorwürfen an ihn), aber ihren Sohn konnte sie nicht verlassen. Sie hatte ein Lebensziel. Und sie mußte handeln, han- deln, um dieses Verhältnis zu ihrem Sohn zu sichern, damit man ihn ihr nicht nahm.
5.2 H. Hesse, "In der alten Sonne"
Charakterisierung eines Fabrikbesitzers.
Aus H. H., Die schönsten Erzählungen. stb 3638. Frankfurt/M 2004. S.33:
"Er wäre als Indianerhäuptling oder als Regierungs- rat oder auch als berittener Landjäger ganz ebenso in seinem Element gewesen, doch schien ihm nun das Leben eines Fabrikbesitzers sowohl bequemer als selbstherrlicher. Eine Zigarre im Mundwinkel und ein sorgenvoll gewichtiges Lächeln im Gesicht, am Fenster stehend oder am Schreibtisch sitzend allerlei Befehle zu erteilen, Verträge zu unter- zeichnen, Vorschläge und Bitten anzuhören, mit der faltigen Miene des Vielbeschäftigten eine gelassene Behaglichkeit zu vereinigen, bald unnah- bar streng, bald gutmütig herablassend zu sein und bei allem stets zu fühlen, daß er ein Hauptkerl sei und daß viel in der Welt auf ihn ankomme, das war seine erst spät zu ihrem vollen Recht gekommene Gabe. Nun hatte er das alles reichlich, konnte tun, was er mochte, Leute anstellen und entlassen, woh- lige Seufzer des sorgenschweren Reichtums ausstoßen und sich von vielen beneiden lassen. Das alles genoß und übte er auch mit Kennerschaft und Hingabe, er wichtigte sich weich im Glücke und fühlte sich endlich vom Schicksal an den ihm gebührenden Platz gestellt."
5.3 "Priester" - "Profet"
Angehörige der einen oder anderen 'Klasse' sind - z.B. ablesbar im Alten Testament - mit unterschiedlichen Merkmalen ausgestattet, die deutlich verschieden sind, somit ständig für Konfliktstoff sorgen:
- "Priester" wird man durch standardisierte Ausbildung, öffentliche Weihe / Salbung, Beauftragung mit definierten Funktionen, z.B. Durchführung kultischer Handlungen am Tempel, sprachlich ist er auf die Vorgaben der "Tradition" verpflichtet und eingeschworen usw. - dies alles im Einklang mit denen, die den Beruf bereits ausüben, im Einklang meist auch mit der politischen Führung, diese stützend. Derartiges erwartet die Gesellschaft von diesem Beruf. "Priester" stützen auf ihre Weise in der Regel die bestehende Gesellschaft, sorgen für Kontinuität.
- "Profet" ist ein Einzelner, der sich auf göttlichen Ruf bezieht, einer, der kritisch Position gegenüber den Gewohnheiten, Praktiken der Gesellschaft bezieht - politisch und sozial, der auch antiautoritär auftritt. Er ist in seinem Tun nicht abgesichert, gedeckt, durch eine Gemeinschaft, zieht oft den Zorn, Ärger der Vielen auf sich, muss sich schützen. Sprachlich kann er sich erlauben, was ihm richtig erscheint. Oft treten kreative Persönlichkeiten auf, die durch neue Sprache Aufsehen, gelegentlich auch Umdenken bewirken. In ähnliche Richtung gehen die Rollenbezeichnungen "Seher", "Visionär", "Mann Gottes" - ohne dass es ein klares System gäbe. Solche Figuren helfen durch - provokative, ungewöhnliche - Sprache, dass die Gesellschaft sich besser versteht, sich je neu auf gemeinsames Handeln verständigt. Bisweilen liefern sie provozierende neue Sichtweisen, stoßen geistiges Umdenken an. Bloße Rechtfertigung bestehender Herrschaft ist von ihnen nicht zu erwarten.
5.4 Hermann Hesse
aus: Hermann Hesse, Meistererzählungen. Stuttgart 1973
"Kinderseele"
(380) "... waren meine Gedanken mit Oskar Weber beschäftigt. Ich fühlte, daß ich ihn nicht liebte, obwohl sein gutmütiges Gesicht, das mich an eine Waschfrau erinnerte, mir sympathisch war. Was mich zu ihm hinzog, war nicht seine Person, sondern etwas anderes, ich könnte sagen, sein Stand - es war etwas, was er mit fast allen Buben von seiner Art und Herkunft teilte: eine gewisse freche Lebenskunst, ein dickes Fell gegen Gefahr und Demütigung, eine Vertrautheit mit den kleinen praktischen Angelegenheiten des Lebens, mit Geld, mit Kaufläden und Werkstätten, Waren und Preisen, mit Küche und Wäsche und dergleichen. Solche Knaben wie Weber, denen die Schläge in der Schule nicht weh zu tun schienen und die mit Knechten und Fuhrleuten und Fabrikmädchen verwandt und befreundet waren, die standen anders und gesicherter in der Welt als ich; sie waren gleichsam erwachsener, sie wußten, wieviel ihr Vater am Tag verdiene, und wußten ohne Zweifel auch sonst noch vieles, worin ich unerfahren war. Sie lachten über Ausdrücke und Witze, die ich nicht verstand. Sie konnten überhaupt auf eine Weise lachen, die mir versagt war, auf eine dreckige und rohe, aber unleugbar erwachsene und 'männliche' Weise. Es half nichts, daß man klüger war als sie und in der Schule mehr wußte. Es half nichts, daß man besser als sie gekleidet, gekämmt und gewaschen war. Im Gegenteil, eben diese Unterschiede kamen ihnen zugute. In die 'Welt', wie sie mir im Dämmerschein und Abenteuerschein vorschwebte, schienen mir solche Knaben wie Weber ganz ohne Schwierig- keiten eingehen zu können, während mir die Welt so sehr verschlossen war und jedes ihrer Tore durch unendliches Älterwerden, Schulesitzen, durch Prüfungen und Erzogen- werden mühsam erobert werden mußte. Natürlich fanden solche Knaben auch Hufeisen, Geld und Stücke Blei auf der Straße, bekamen Lohn für Besorgungen, kriegten in Läden allerlei geschenkt und gediehen auf jede Weise."
6. "Freund, follower etc." in Zeiten von facebook usw.
6.1 Streiflicht (SZ 19.4.2014)
Nach Lage der Dinge, wie Heinz Rühmann sie singend be- urteilte, ist "ein Freund, ein wirklicher Freund, der größte Schatz, den es gibt. Aber diesem Schatz geht es jetzt in der postmodernen Welt, die bekanntlich keinen Stein auf dem anderen lässt, an den Kragen. Wir zählen ja gerade unsere neuen Internetfreunde in Tausenden, weil der komplett ausindividualisierte Mensch so sensationell vielschichtig ist, dass an tausend Ecken und Kanten überall noch ein Freund passt. Der Schwarm ist dein Freund, multiple Per- sönlichkeiten brauchen multiple Freundschaften. Und wenn es sie nicht schon gibt, dann brauchen wir dringend Freunde-Such-Seiten, auf denen man sich das Profil des Tausendsassa-Freundes zusammenstellen kann. Man ahnt, dass am Ende bei Männern eine Mischung aus Rudi Carell, Brad Pitt, Willy Brandt und Franz Beckenbauer herauskommen wird. Mit diesem Freundschafts-Homunculus quatschen wir dann die Nächte durch. Oder quatscht nur der Superkumpel und uns hört keiner zu?