4.2 Akteure
Inhaltsverzeichnis
Aus dem Inhalt
Handelnde Figuren im Text ziehen das Interesse auf sich. Es gibt aber auch Figuren / Instanzen hinter dem Text. Und diese sollten nicht mit dem historischen Autor bzw. dem realen Leser verwechselt werden. - Eine thematische Überschneidung gibt es zu: [1]
Subjekt, Akteur, Gestalter des eigenen Lebens sein wollen, vgl. [2], - und nicht Opfer, jemand, über den verfügt wird - das sind auch staatlich-gesellschaftlich entscheidende Themen. Werden sie nicht beachtet, drohen Aufstände, Bürgerkrieg.
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0. Nachträge zur Theorie
0.1 Zur Methode
Akteure
Die handelnden Figuren in einem Text zu identifizieren ist meist keine besonders schwierige Aufgabe, sie dann anschließend zu beschreiben und charakterisieren jedoch schon. Für diesen Zweck kann man sich unterschiedlicher Textebenen bedienen, angefangen auf der „untersten“ Ebene, der Wortebene. Schon hier kann man anhand einzelner Pronomina, Verben oder Nomen bestimmte Informationen über die Akteure erhalten. Wir wollen uns an dieser Stelle zunächst mit folgenden Phänomenen beschäftigen:
1. Pronominalisierung: wird ein Nomen durch eine „Pro-Form“ ersetzt, so spricht man von einer Pronominalisierung.
Beispiele: [der Mann] → er, dieser, jener das Buch [des Mannes] → sein Buch die Tochter [von meiner Nachbarin] → ihre Tochter
Je nach Verwendung der Personalpronomen können damit unterschiedliche Aussagen über den dadurch bezeichneten Akteur getroffen werden: Verwendung eines Pronomens statt einer NP als Zeichen für Bekanntheit oder Vertrautheit: unbekannte Personen werden zunächst nicht direkt durch ein Pronomen eingeführt, sondern dem Pronomen geht normalerweise eine „Voll-Nominalphrase“ (d.h. ein Nomen + Artikel) voraus, da ansonsten nicht verständlich wird, wer oder was durch das Pronomen gemeint ist. Wird nun also ein Pronomen genannt, so ist dies meist ein Zeichen dafür, dass diese Person als bekannt vorausgesetzt wird. Die Pronomen können in diesem Fall ein Indikator für Bekanntheit, bzw. Vertrautheit zwischen zwei Akteuren sein, besonders, wenn das Personalpronomen ein Nomen ersetzt, das beispielsweise eine Berufsbezeichnung darstellt (wenn z.B. „der Lehrer“ nach der ersten Nennung mit „er“ bezeichnet wird. Davon abgesehen, dass es auch stilistisch nicht besonders schön ist, immer wieder dieselbe NP zu verwenden, würde man es als Leser eine solche Wiederholung vermutlich auch als Merkmal für Distanz interpretieren).
Verwendung eines Pronomens statt einer NP als Zeichen von Distanz: Im Gegensatz dazu kann durch die Verwendung von Pronomen anstatt einer Voll-NP jedoch auch eine Distanz entstehen, besonders dann, wenn sich das Pronomen auf eine Person bezieht, deren konkreten Namen wir schon kennen. Wird ein Akteur z.B. mit „das Mädchen“ eingeführt und im weiteren Verlauf des Textes von einem anderen Akteur nachfolgend mit „es“ bezeichnet, obwohl wir möglicherweise bereits erfahren haben, dass das Mädchen „Lisa“ heißt, so zeigt die Verwendung des neutralen Pronomens an, dass sich der Akteur von eben diesem Mädchen distanziert und sie vielleicht nicht als Individuum anerkennt. Pronomen können zudem eine Beziehung zwischen zwei Akteuren anzeigen, beispielsweise ein Familienverhältnis, indem so genannte Possessivpronomen verwendet werden (die dann natürlich keinen Besitz, sondern ein Verhältnis darstellen). Wenn ein Akteur sich über eine Person äußert und anstatt „der Lehrer“ z.B. „mein Freund“ verwendet, so kann man als Leser schon allein an dem Pronomen eine gewisse Beziehung zwischen diesen beiden Akteuren erkennen. Diese Beziehung wird dann natürlich noch durch das Nomen spezifiziert: hier handelt es sich um ein freundschaftliches Verhältnis, während bei „meine Tochter“ ein Familienverhältnis deutlich wird.
Beispiele:
a)
Das neue Wesen sagt, es heiße Eva. Von mir aus, ich habe nichts dagegen. Sagt, mit dem Namen könne ich es rufen, wenn ich möchte, dass es kommt. (...) Das Wesen sagt, es sei kein Es, es sei eine Sie. Das bezweifle ich; doch für mich ist das einerlei; was sie ist, wäre mir egal [1.7-1.26]
Adam scheint sich an dieser Stelle also von Eva zu distanzieren, da er sie weiterhin als „es“ bezeichnet, sich also auf das sehr unbestimmte Nomen „das Wesen“ bezieht und nicht auf den von ihr genannten Namen „Eva“. Erst nachdem Eva konkret darauf hinweist, dass sie kein „es“, sondern eine „sie“ sei, bezeichnet auch Adam sie als „sie“. Er scheint die Distanz also wieder etwas aufzuheben, wobei man natürlich beachten sollte, dass er dies vielleicht nur macht, weil Eva darauf besteht.
b)
Während der letzten ein, zwei Tage habe ich die ganze Last, Dinge zu benennen, von seinen Schultern genommen, und es war eine große Erleichterung für ihn, denn er ist recht unbegabt und offensichtlich sehr dankbar. (...) Wann immer ein neues Geschöpf auftaucht, gebe ich ihm einen Namen, bevor er Zeit hat, sich durch peinliches Schweigen bloßzustellen. [1.46-1.55] Wie uns doch eine Kleinigkeit glücklich machen kann, wenn wir spüren, dass wir sie verdienen! [1.94-1.96]
Eva hingegen bezeichnet Adam von Anfang an als „er“. Da Adam vermutlich seinen eigenen Namen gar nicht kennt und diesen Eva somit auch nicht nennen kann, bleibt sie bei dem „er“. Es ist jedoch verwunderlich, dass sie jedem Geschöpf und allen Dingen Namen gibt und nur Adam stets mit „er“ anredet, anstatt ihm einen Namen zu geben. Daran lässt sich vielleicht nicht unbedingt Distanz, sondern möglicherweise ein gewisser Respekt oder die Angst, den falschen Namen zu wählen, erkennen. Auffällig ist auch, dass Eva am Ende ihres Tagebucheintrags die Pronomen „wir“ und „uns“ verwendet, also vermutlich schon eine gewisse Bindung zu Adam entwickelt hat und ihn in ihr Gefühlsleben und Empfindungen mit einschließt.
2. Renominalisierung: während bei der Pronominalisierung eine NP durch eine Pronomen ersetzt wird, verläuft die Renominalisierung genau umgekehrt: ein Pronomen wird durch eine NP ersetzt. Auch daran kann man wieder eine gewisse Charakterisierung eines Akteurs ablesen, je nachdem, welche NP eingesetzt wird. Vor allem im Vergleich mit den vorher genannten NPs, die den Akteur bezeichnen, kann man dann entscheiden, ob es sich hierbei um das Schaffen von Distanz oder Nähe handelt.
Beispiele:
Das neue Wesen sagt, es heiße Eva. Von mir aus, ich habe nichts dagegen. Sagt, mit dem Namen könne ich es rufen, wenn ich möchte, dass es kommt. (...) Das Wesen sagt, es sei kein Es, es sei eine Sie.
Auch an der Wahl der Substantive, mit denen Adam Eva bezeichnet, lässt sich eine gewisse Distanz erkennen. So geht die Benennung zunächst in von „unbekannt/fremd“ („das Wesen“) zu „bekannt/vertraut“ („Eva“) wieder zurück zu „unbekannt/fremd“ („das Wesen“), was dieses Gefühl noch verstärkt.
Eva verwendet hingegen keine Renominalisierung. Sie verbleibt bei dem Pronomen „er“. Wie wir unter dem ersten Punkt gesehen haben, mutet dies merkwürdig an, da Eva sonst mit Namen nur so um sich schmeißt, sich bei Adam aber zurückhält oder sich nicht festlegen möchte.
3. Deskription: durch eine Deskription werden den Lesern detaillierte Informationen zu einer bestimmten Person/Gegenstand/etc. mitgeteilt. Meist wird die Deskription in Form eines Relativsatzes an die Äußerung angeschlossen, die näher erläutert werden soll. Hier befinden wir uns also nicht mehr nur auf der Wortebene, sondern all das, was in diesem Relativsatz genannt wird, kann uns als Charakterisierung eines Akteurs dienen.
Beispiel: a)
[Die Frau], die mit ihren vielen Kindern in der Wohnung unter mir wohnt und stets sehr nett und freundlich ist, hat mir bei der Renovierung geholfen.
In diesem Fall erfahren wir durch den Relativsatz eine ganze Menge an Informationen über die Frau: nicht nur, dass sie vermutlich kinderfreundlich ist, sondern auch, wo sie wohnt, dass sie offensichtlich hilfsbereit ist und dass der „Sprecher“ sie als nett und freundlich bezeichnet.
b)
Das neue Wesen sagt, es heiße [Eva.] (…) und in der Tat ist es [ein großer, kräftiger Ausdruck,] der eine Wiederholung verträgt. [1.7-1.8/1.18-1.19]
Hier kann viel spekuliert werden. Sollte die Deskription „ein großer, kräftiger Ausdruck“ sich auf den Namen Evas beziehen, so könnte man annehmen, dass Adam in gewisser Weise beeindruckt ist, von der Art, wie Eva auftritt. Möglicherweise fasziniert ihn die Fähigkeit Evas, den Dingen Namen geben zu können. Dadurch, dass Adam feststellt, dass dieser Ausdruck eine Wiederholung verdient, könnte man vermuten, dass ihm der Name gefällt und er diesen in Zukunft auch wiederholen, d.h. verwenden wird.
c)
Während der letzten ein, zwei Tage habe ich die ganze Last, Dinge zu benennen, von seinen Schultern genommen, und es war eine große [Erleichterung] für ihn, denn er ist recht unbegabt und offensichtlich sehr dankbar.
Eva macht durch ihre Einschätzung Adams deutlich, dass sie ihn für unbegabt im Benennen von Dingen und Lebewesen hält. Gleichzeitig unterstellt sie ihm jedoch auch, dass sie für ihn eine Erleichterung darstellt und er dankbar sei. Wir wissen nicht, wie die Gespräche zwischen den beiden abgelaufen sein könnten, man könnte jedoch vermuten, dass Eva hier einen falschen Eindruck von Adam gewinnt, indem sie ihm Dankbarkeit unterstellt, während er in seinem Tagebucheintrag davon redet, dass sie das ganze Grundstück mit abscheulichen Namen verschandelt habe. Hier gehen Fremdeinschätzung und Selbstdarstellung stark auseinander, was jedoch auch einen Rückschluss auf die jeweiligen Akteure zulässt.
4. Explikation: im Gegensatz zur Deskription erhält der Leser durch die Explikation keine neuen Informationen, sondern das bereits Gesagte wird nur noch mal mit anderen Worten beschrieben. Häufig werden für eine Explikation Phrasen wie "nämlich", "und zwar", "also", "denn", "mit anderen Worten" verwendet.
Beispiele: a)
Meine Nachbarin hat mich zum Essen eingeladen, da [sie kochen kann], und zwar sehr gut.
An dieser Stelle erfährt der Leser nicht wirklich viel Neues über die Nachbarin. Dass sie gut kochen kann (was unter dem Ausdruck „sie kann kochen“ wohl mitverstanden wird) erfahren wir bereits im ersten Nebensatz. Der zweite Nebensatz verweist nun nur noch mal extra darauf, dass sie auch gut kochen kann, möglicherweise um dies noch zu betonen.
b)
Ich brauche keine Sekunde zu überlegen; [der richtige Name] kommt sofort, wie eine Eingebung, was er zweifellos ist [1.62-1.64]
Eva bezieht sich mit dieser Äußerung nicht auf Adam, sondern auf sich selbst und ihr Talent, den Dingen Namen zu geben. Sie weist darauf hin, dass die Namen wie eine Eingebung in ihr auftauchen und betont durch die Explikation, dass sie dieses Talent auch selbst als eine Eingebung betrachtet.
5. Parenthesen: Parenthesen sind Einschübe, die in einen Satz eingefügt werden. Häufig werden Parenthesen durch einen Gedankenstrich gekennzeichnet, was schon darauf hinweist, dass es sich inhaltlich (besonders in literarischen Texten) häufig um Gedanken, Kommentare , etc. des Sprechers handelt.
0.2 Selbst-Bewusstsein: Immanuel Kant
(aus: M. Kühn, Kant. Eine Biographie. München 2004. 3. Aufl. S. 477) "In einer höchst beachtenswerten Passage behauptet Kant: 'Ich bin ein Gegenstand von mir selbst und meiner Vorstellungen. Daß noch etwas außer mir sei ist ein Produkt von mir selbst. Ich mache mich selbst ... Wir machen alles selbst.' Genauer:
Der Verstand fängt mit dem Bewußtsein seiner selbst (apperceptio) an und übt damit einen logischen Akt aus an welchen sich das Mannigfaltige der äußeren und inneren Anschauung reihet und das Subjekt sich selbst in grenzenloser Reihe zum Objekt macht. Diese Anschauung ist aber nicht empirisch ..., sondern bestimmt den Gegenstand durch den Akt des Subjekts a priori seiner eigenen Vorstel- lungen Inhaber und Urheber zu sein.
0.3 Quartett
S. Lenz, Deutschstunde. München 1973, 45. Aufl. S. 450f:
Wie lassen sich die 4 Männer beschreiben? Der Grinser läßt sich rasch hinstellen, denn er trug als einzige Uniform: barhäuptig, eine geschwun- gene Pfeife im Mundwinkel, fleckiger Schnurrbart, einen Tuschkasten auf der Brust, Sommersprossen im Gesicht und auf den Händen, auf den Schulter- klappen Krone und mehrere Sterne, sagen wir: ein leicht lahmender, hartnäckig grinsender Seehund. Dagegen wirkt der Landeskommissar - oder der Mann, der sich später als Landeskommissar herausstellte - unscheinbarer, bedürftiger sogar: einen Kopf kleiner als der Seehund, schmal, erstaunlich gebeugter Rücken, beide Hände in den Taschen, als ob er fröre, aufgetragener Anzug: Mister Gaines. Der Jüngste von ihnen fiel weniger durch die schroffe Kantigkeit seines Gesichts auf, auch nicht durch die ewig brennende Zigarette und die, wie mir schien, übertrieben großen Wildlederschuhe, vielmehr gewann er Interesse wegen seiner Stimme: sobald der sprach - und da er der Dolmetscher war, sprach er doppelt so viel wie die anderen -, hörte es sich so an, als würden im Kirschgarten des Gutes Söllring Knarren und Rasseln in Bewegung gesetzt, um die Stare zu vertreiben. Und der Vierte? Der trug einen Schlapphut, eine Brille mit Stahlrand trug er sowie eine gefüllte Aktentasche.
0.4 Eigenname - Anonymität
Vgl. [3] - darin die Zitate von den Buchseiten 477ff
1. Konstante Handlungs-Maximen
Eine Person, ein Akteur, tritt in sehr unterschiedlichen Situationen auf. Viele seiner Handlungen sind nicht unmittelbar vergleichbar - weil eben die Situationen verschieden sind. Gut, die jeweilige beobachtbare Person ist die gleiche. - Ist das aber alles? Die Frage nach den Maximen will wissen, ob der Akteur in verschiedenen Situationen vergleichbar, insofern berechenbar, mit konstanter Orientierung, Interessenlage handelt. Wenn ja, dann kommt zur äußeren Identität ein konstantes Verhaltensmuster hinzu.
1.1 Schon Immanuel Kant, 18. Jhd.
... hat sich damit in seinen Vorlesungen beschäftigt. Er verstand 'Maximen' als 'Lebensregeln'. Sie sind
... "daher nicht als 'freischwebende , isolierte Entscheidungen [aufzufassen], ... die in keinem Zusammenhang zu einem dauerhaften moralischen Akteur mit einem bestimmten Wesen und Interesse stehen' ... Maximen beziehen sich immer auf dauerhafte moralische Akteure. Sie sind nur dann sinnvoll, wenn wir einen Akteur voraussetzen. Sie sind Ausdrucksformen vernünftigen Handelns. Kennten wir wirklich die Maximen eines vernünf- tigen Akteurs, dann wüßten wir auch eine Menge über den moralischen Akteur. Da die Maximen genau die Regeln sind, nach denen er lebt, würden wir an den Maximen erkennen, was für ein Mensch er ist. Wir brauchten auch nicht jede einzelne Handlung des Akteurs zu betrachten, um seine oder ihre Maximen zu bestimmen. Seine Verhaltens- muster würden hinreichen, um uns etwas über die Regeln zu sagen, nach denen er zu leben sich entschlossen hat." (M. Kühn, Kant. Eine Biografie. München 2003. S.177.)
2. Juristerei
Die Rechtswissenschaft braucht ganz wesentlich die Überlegung, wer als vollgültiger "Akteur" betrachtet werden kann/muss. Man denke an die Fragen der Zurechnungsfähigkeit, der Geschäftsfähigkeit, Volljährigkeit. Entsprechend Vorgebildete müssten hier viele interessante Fälle zur Illustration nachtragen können.
2.1 Aktiengesellschaft
Sind Aktien frei fließende Finanzwerte (= Prozesse), die man nicht zur Verantwortung ziehen, somit auch nicht juristisch belangen kann? Dazu gibt es in verschiedenen Staaten durchaus unterschiedliche Auffassungen. In Deutschland meldet sich die Tendenz, auch Aktiengesellschaften als "Akteure" zu verstehen, denen man einklagbare Auflagen machen kann, z.B. in punkto Nachhaltigkeit des Produzierens.
3. Literarische Beispiele
3.1 Alte Männer / alte Frauen
Charakterisierung solcher Figuren durch Einzelmerkmale - wenn auch in humoristischer Absicht ...
Erasmus von Rotterdam, Das Lob der Torheit. Eine Lehrrede. Übersetzt von Anton J. Gail. Reclam Nr.1907. Stuttgart 2010. (38f) [Die Torheit spricht:] Mir allein ist es doch zuzuschreiben, daß ihr immer wieder Männer im Alter eines Nestor seht, die kaum noch Ähnlichkeit mit einem Menschen haben, lallend, blöde, zahnlos, weiß, kahl oder - um sie mehr mit den Worten des Aristo- phanes zu beschreiben - ungepflegt, krumm, trübselig, runzlig, glatzköpfig, ohne Gebiß und ohne Geschlechtstrieb, die aber doch so am Leben hängen und sich so jugendlich gebärden, daß der eine sein Haar färben läßt, der andere seine Glatze unter einer Perücke birgt, der dritte ein falsches Gebiß gebraucht und wieder ein anderer sich in ein Mädchen verliebt, wobei er es mit verliebtem Unfug jedem jungen Mann zuvortut. Dem Tode nahe und reif für das Grab, führen sie doch ein Weibchen heim, ganz gleich, ob sie ohne Mitgift ist und anderen Nutzen bringt, und das alles ist so gang und gäbe, daß es fast noch gerühmt wird. Ein noch köstlicheres Schauspiel bieten aber alte Vetteln. Längst schon Greisinnen, dem Tode ausgeliefert und gleichsam so voll Leichengeruch, daß sie von den Toten auferstanden scheinen, haben sie trotzdem immer noch das "Freut euch des Lebens" im Munde, sind voll Brunst und bocks- lüstern, wie die Griechen sagen. Sie scheuen keine Kosten, um sich einen Phaon zu ködern, schminken sich ständig und weichen nicht vom Spiegel. Hemmungslose Begierde plagt sie, und sie zeigen ihren welken und schlaffen Busen in einem gewagten Dekolleté. Ausgelassene Lieder sollen den altersschwachen Trieb aufmuntern, dazu Trinkgelage, Tanz mit jungen Mädchen und verliebte Briefwechsel.
3.2 "Wo bin ich denn hier?"
Wolfgang Herrndorf, tschick. Reinbeck 2014 36.Aufl. Der Autor lässt den Roman so beginnen:
(12) Der Arzt macht den Mund auf und zu wie ein Karpfen. Es dauert ein paar Sekunden, bis Worte rauskommen. Der Arzt schreit. Warum schreit denn jetzt der Arzt? Er schreit die kleine Frau an. Dann mischt sich der Uniformierte ein, eine blaue Uniform. Ein Polizist, den ich noch nicht kenne. Er weist den Arzt zurecht. Woher weiß ich überhaupt, dass das ein Arzt ist? Er trägt einen weißen Kittel. Könnte also auch ein Bäcker sein. Aber in der Kitteltasche hat er eine Metalltaschen- lampe und so ein Horchding. Was soll ein Bäcker mit dem Horchding, Brötchen abhorchen? Wird schon ein Arzt sein. Und dieser Arzt zeigt jetzt auf meinen Kopf und brüllt. Ich taste unter der Bettdecke herum, wo meine Beine sind. Sie sind nackt. Fühlen sich auch nicht mehr bepisst an oder blutig. Wo bin ich denn hier?
4. Kriminalisten ...
... hätten gerne Name, Adresse, Telefonnummer von verdächtigen Personen, so dass dann Polizei und Justiz zugreifen können. Aber wenn es immer so einfach wäre!
4.1 Profiler
Stattdessen haben sie oft keinen Namen, keine Identität, aber ein Täterprofil - zusammengesetzt aus vielen Einzelerkenntnissen, Indizien. Es sind folglich Profiler, die ein solches 'Profil' erstellen - dann weiß man anschließend, in welchem Rahmen die Kriminalbeamten suchen sollen.
Als in Norddeutschland ein Mörder/Sexualtäter sein Unwesen trieb, trug man puzzleartig zusammen: - er müsse zwischen 35-45 Jahre alt sein - habe Ortsbezug zu Bremen, habe dort wohl auch einige Jahre gelebt - sei durchschnittlich bis überdurchschnittlich intelligent - könne mit Kindern gut umgehen, sei womöglich im pädagogischen Bereich beruflich tätig
Nach der Enttarnung des Täters - jetzt kannte man auch seinen Namen, seine Identität, erwies es sich, dass das 'Profil' exakt gepasst hatte.
- er war bei seiner Entdeckung 41 Jahre alt - hatte Lehramt studiert, dann als Pädagoge mit Kindern gearbeitet - war in Bremen aufgewachsen, hatte lange dort gelebt
Im Prozess outete er sich und brach weinend zusammen. - (nach SWP 27.9.2014)
5. Politik
5.1 Terror der IS-Miliz
Was sind (Ende 2014) die Gründe, dass viele junge Menschen sich im Nahen Osten der IS-Miliz anschließen? - Interview mit Mulack, Direktor des Orient-Instituts (STB 12.12.2014). Auszüge:
Welche Ursachen gibt es dafür? MULACK: Gerade die jungen Araber haben ein feines Gefühl für Gerechtigkeit. Man sieht sich in einer Opferrolle. In ihren Augen ist die westliche Politik unaufrichtig. Auch Israel kann machen, was es will, und kaum jemand protestiert. In Syrien tötet Assads Regime mehr als 200 000 Menschen und wirft weiter tödliche Bomben, der Westen sagt dazu nichts. In Ägypten hat praktisch ein Militärregime wieder die Macht übernommen, der rechtmäßig gewählte Präsident wurde verhaftet - unsere Reaktion war null.
Deswegen wendet man sich einer menschenver achtenden Miliz zu? MULACK: Die ohnehin oft wegen der armen Verhält- nisse - keine Bildung, keine Arbeit, keine Zukunftsperspektiven - vorhandene Frustration wird so stark, dass die Jugendlichen etwas aktiv tun wollen. Dann wird dieser brutal-radikale IS, der ohne Hemmungen gegen die ganze Welt vorgeht und keine Angst vor amerikanischen Bomben hat, zur letzten Hoffnung. Zur letzten Tür, durch die man gehen kann, um zu zeigen: Ich will etwas tun. Da ist Idealismus dabei, aber vor allem auch falsche religiöse Erwartungen und ideologische Verblendung.
5.1.1 "Die terroristische Persönlichkeit"
So ist ein Artikel in SPIEGEL 22/2016 S.134ff überschrieben. Daraus einige Zitate - ergänzt, vorneweg, um Verweise auf Module unserer Alternativ-Grammatik.
In vielen Variationen spielt eine geistige Operation eine Rolle: [4]/vgl. auch den dortigen pdf-Text. Die Welt wird zweigeteilt: Gleich bzw. Ungleich.
Das Werten, dem ja auch ein binäres Denken zugrundeliegt ist sehr wichtig: [5] Anders gesagt: diese Denkform ist gedanklich anspruchslos, umgeht Differenzierungen, reduziert alles auf Ja/Nein.
Entsprechend chaotisch bzw. panisch wird reagiert, wenn in einem Lebensbereich ein solch klares Ja/Nein-Denken anscheinend nicht möglich ist, die verlangten klaren Grenzen nicht gelten. Exemplarisch ablesbar im sexuellen Bereich (Transgender). Solche Infragestellungen der eigenen Denkform werden bekämpft.
Kein Wunder, dass daraus in größerem Rahmen feste gedankliche Systeme / Religionen / Ideologien entstehen bzw. bevorzugt werden: [6]
Hoher Anteil an "Ingenieuren": Diese Berufsgruppe muss rational, mit klaren Unterscheidungen, arbeiten, ist daran gewöhnt. Der Fehler liegt darin, diese einzel-berufliche Notwendigkeit auf sämtliche Lebensbereiche zu übertragen.
"Der Grund für den hohen Anteil von Ingenieuren unter den Terroristen in der arabischen Welt heißt 'relative Deprivation'. Es ist das Gefühl, nicht zu bekommen, worauf man glaubt, einen Anspruch zu haben. Ingenieur war in den aufstrebenden arabi- schen Staaten der Fünfziger, Sechziger und frühen Siebziger ein Beruf, der mit hohem Status einher- ging. Er war oft mit einer staatlichen Anstellung verbunden, und symbolisch wie real spielten Ingenieure eine wichtige Rolle bei der Modernisie- rung und Erneuerung dieser Länder. Sie bauten die Straßen und Staudämme. Diesen Status hat der Beruf noch immer - doch angesichts der Modernisierungskrise, die diese Länder seit Langem im Griff hat, fehlt den Inge- nieuren dort die Gestaltungsmöglichkeit (...) Vier charakterliche Grundzüge machen für die Autoren den prototypischen rechten Terroristen aus. Erstens ein starkes Gefühl von Ekel. Im konkreten wie im übertragenen Sinn. Das treibt ihn an. Er will zum einen sich und seine Umwelt sauber halten. Allerdings geht das Gefühl des Ekels weit darüber hinaus. Nichts verbindet Islamisten, Nazis, Faschisten so sehr wie die Überzeugung, die kulturelle Reinheit ihres Landes, ihres Volks oder ihres Glaubens sei bedroht. Gemeinsames Feindbild: der schwule Mann. Zweitens ein Bedürfnis nach Ordnung, Struktur und Sicherheit. Kognitive Abgeschlossenheit ist der soziologische Fachterminus dafür. Drittens hat der Rechtsterrorist eine starke Abneigung gegen alle Vieldeutigkeit. Komplexe Probleme, glaubt er, müssten einfache Lösungen haben. Und viertens unterscheidet er überdeutlich zwischen sich und seiner Bezugsgruppe - und allen, die nicht dazugehören. Eine Grenze, die wieder und wieder blutig gezogen werden muss (...) Die Konstanten sind eine Reihe von Charakter- zügen, die sich bei Qaida-Kämpfern und SS-Männern finden lassen, bei einem irakischen Bombenbauer wie bei einem Aryan-Nations-Kämpfer im Mittleren Westen der USA. Sie lassen sich auf eine Reihe von Grundannah- men herunterbrechen. Traditionalismus, insbesondere wenn es um Geschlechterrollen geht. Glaube an Hierarchien. Grundsätzlicher Autoritarismus. Die Ablehnung einer pluralistischen Gesellschaft. Das starke Gefühl, in einer korrupten Welt zu leben, die gereinigt werden muss. Hass auf die Juden. Und die Überzeugung, dass früher alles besser war und dass der richtige Weg zurück zu alter Glorie führt, einem Reich, das einmal groß war und wieder groß werden wird. Dieses Weltbild kommt ziemlich gut ohne Religion aus, beziehungsweise ist für verschiedenste Überzeugungen anschlussfähig. Der Wunsch nach Ordnung ersetzt den Glauben."
5.2 Fortführung: Entmündigung der Bürger
Konsequentes Verhindern des eigenen Willens, der Gestaltungsmöglichkeit der Bürger im Staat, so dass diese - demokratisch - selbstbestimmte Akteure werden, das sei wesentliche Vorbedingung für das Wüten der IS-Miliz: (aus "Kernschmelze im Orient", SWP 5.1.2015:)
"Und so konstatiert der libanesische Publizist Rami G. Khouri einen "katastrophalen Kollaps der existierenden arabischen Staaten. Er habe keinen Zweifel, dass die wichtigste Ursache für Geburt und Wachstum der IS-Gedankenwelt "der Fluch der modernen arabischen Sicherheitsstaaten seit den 70er Jahren ist, die ihre Bürger wie Kinder behandelten und ihnen vor allem Gehorsam und Passivität lehrten", schreibt er. Für ihn ist die eigentliche Tragödie "die korrupte und amateurhafte Staatlichkeit" quer durch die arabische Welt sowie die "ständige Einmischung und militärischen Übergriffe durch ausländische Mächte, einschließ- lich der Vereinigten Staaten, einiger Europäer. Russlands und Irans".
5.2.1 "Subjekt"-Sein und moderne Gesellschaft: Gewalt
Im Kontext der Straßenschlachten in Hamburg, Juli 2017, anlässlich des G20-Gipfels, mehrere Beiträge in SPIEGEL 29/2017. Daraus aus dem Beitrag von G. Latsch:
"In hoch entwickelten Industriegesellschaften, in denen Individuen auf ihre Verwertbarkeit für die Arbeits- und Konsumwelt reduziert würden (= Sicht des Leiters des Sigmund-Freud-Instituts, Ffm) könne Gewalt die Illusion vermitteln, sich wieder aktiv ins Weltgeschehen einzuschalten, vom Objekt der Verhältnisse wieder zum Subjekt des Geschehens zu werden. Was in dieser politischen Fata Morgana sichtbar werde, sei nicht die krude Fantasie einer militanten Minderheit, sondern das pervers ins Gegenteil gewendete Ideal des weltgestaltenden Subjekts." (...)
"Mit einer ähnlichen Formulierung hat der amerikanische Tabakkonzern Philip Morris vor Jahren für seine Zigarettenmarke Marlboro geworben: 'Der Geschmack von Freiheit und Abenteuer' war der Geschmack von kernigen Cowboys in einsamen Landschaften. Ein Kampagne, die so gar nichts mit der Lebenswirklichkeit hektisch rauchender Arbeitsbienen zu tun hatte. Und die wohl gerade deshalb erfolgreich war, weil sie den Marionetten im Hamsterrad die Zigarette als Tür zum freien Leben im Wilden Westen offerierte. Auf ihre Art haben viele Autonome dieses hohle Ver- sprechen wörtlich genommen. Sie sind die dunkle Seite einer Gesellschaft, die hedonistische Selbstverwirk- lichung als leere Hülle zum Ideal erhoben hat. Ihre Vorstellung vom Kampf als intensivem Leben, vom Körper als Waffe ist der Topos, der - systemkonform gewendet - auch die Red-Bull-Welt der Big-Wave-Surfer und Extrem- kletterer prägt: If life gets boring, risk it. Jede Gesellschaft hat die Extremisten, die sie verdient."