4.41 Präsuppositionsprotest - anders herum
Inhaltsverzeichnis
Aus dem Inhalt
Negation ist mit Präsuppositionsprotest gemeint. Ein Sprecher stellt klar, dass er eine Meinung/Annahme des Partners nicht teilt.
anders herum: Bisweilen wäre für Poeten das Wissen der (ach so) gebildeten Leserschaft ausgesprochen hinderlich. Ein Autor muss dann früh ein Signal geben, das die Leser nicht nur bittet, sondern geradezu zwingt, das eigene Weltwissen außer Kraft zu setzen. Der stilistische Reiz muss stark sein. Erst wenn er wirkt, kann der Poet unbehelligt von Nachfragen und Besserwisserei seine story gestalten.
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0. Nachträge zur Theorie
0.1 Vergewisserung durch Witz
Für Kinder ist das Erzählen von Witzen ein Training, sich Grundkategorien, Denkmuster, die auch hier in der Alternativ-Grammatik wichtig sind, einzuprägen.
"Fragt eine ältere, reiche Dame den berühmten Professor für Plastische Chirurgie: 'Können Sie bei mir einen Schönheitsfehler beseitigen?' Der Professor erhebt seinen Blick auf die vor ihm stehende Person und bescheidet dann knapp und bestimmt: 'Enthauptungen gibt es bei mir nicht.' " (Valentin Schagerl, 10 Jahre, in: 100 witzigste Witze. Tübingen 2008)
Impliziert ist in dem "Können" die Frage (= NICHT-WISSEN auf Seiten der Dame) nach "VERSTEHEN, WISSEN" auf Seiten des Professors, also mehrfach [1]. Darin stecken eine Hoffnung [2], Wertungen [3] und indirekt eine Bitte [4]. - Bei der Antwort des Prof. ist es wichtig, dass vermerkt wird, sie sei "knapp und bestimmt" ausgefallen. Das ist nun mal die Eigenart von Negationen. Sie sind binär, entweder-oder, tertium non datur, Zwischentöne gibt es nicht. Da passt es, dass das "Nein" bildhaft durch einen Existenzsatz ausgedrückt wird: [5] und [6].
Höchst beachtlich, was an grammatischen Grundbegriffen durch einen Kinderwitz aktiviert wird. Es ist auch spannend nachzuzeichnen, was spontan und blitzschnell an Entzifferungsstrategien in den Hörern abläuft - erst auf diesem Hintergrund nämlich wirkt der Witz.
0.2 Negation oder Verdrängung oder Weltfremdheit oder ... ?
Manchmal bleibt eine Unsicherheit bestehen, wie ein Ereignis zu verstehen, einzuordnen ist. Anlässlich des 150. Geburtstags des Komponisten Richard Strauss schreibt die SWP (7.6.14):
"Mitten im Ersten Weltkrieg, im Oktober 1915, dirigierte Strauss in Berlin die Uraufführung der 'Alpensinfonie'. Dem Kritiker Julius Korn- gold stieß das auf: 'Die mordende Granate ent- weiht die stillsten Hochgebirgsgipfel, Blut befleckt jungfräuliches Gestein, und da meldet sich der Musiker und lädt zu einem beschauli- chen Genusse wechselnder Naturbilder.' Korn- gold fragte: 'Hört der Künstler Strauss, der so oft dem Pulsschlag der Zeit gelauscht, bewusst über das sie mächtig Bewegende weg? Oder flüchtete er erschreckt in den erhabenen Frieden der Natur?'"
Könnte man - aufgrund weiterer Informationen - das "bewusst" unterstellen, dann hätte Strauss im Medium der Musik eine "Negation" gegen die herrschenden Zustände geliefert. Gälte das "erschreckt", dann hätte er die aktuelle Situation verleugnet und verdrängt, die Augen davor verschlossen.
0.3 Kabarett als verkleidete Sprachlogik
Vgl. von Karl Valentin
Gar net krank is a net g'sund
Gar - Nachdruck, Emphase, vgl. unser Modal-Register ASPEKTE [7] net - umdrehendes Vorzeichen vor der Folgebedeutung krank - schließt pragmatisch natürlich eine negative Wertung ein, vgl. [8] Bedeutung bis hierher bei gemeinter Bedeutung: heftiges, ungläubiges Staunen, dass es GESUND-Sein geben soll und darf.
is - ein Gleichheitszeichen; eine Art Definition wird angekündigt a - das "auch" scheint den Vergleich mit anderen, nicht genannten Unmöglichkeiten einzuschließen. Dadurch bekommt die jetzige Aussage einen 'Hof von Zeugen', wird also emphatisch aufgeladen. net - s.o. g'sund - schließt pragmatisch eine positive Wertung ein, [9]
Bedeutung des zweiten Teils bei gemeinter Bedeutung: heftiges Betonen der Normalität von KRANK-Sein. Dabei schillert g'sund: es dürfte nicht nur der medizi- nische Befund gemeint sein, sondern auch die korrekte Meinung, Einstellung, also die geistige Verfassung.
In der semantischen Wortbedeutung drehen die Negationen die folgende Bedeutung um: "nicht krank" => "gesund", "nicht gesund" => "krank". Damit allein wären die mitgelieferten Modalanzeiger ignoriert, genauso die enthaltene übertragene Bedeutung übergangen. Der Satz lässt aber insgesamt - über die Wortbedeutung hinaus noch eine Reihe von Befürchtungen, überzogenen Behauptungen - und schließlich die Annahme (=Präsupposition) erkennen, wonach der Standard eben das KRANK-SEIN sei - das alles macht eben die Pragmatik sichtbar. - Nach allem, was wir wissen: Mit der raffinierten Äußerung hat K.V. nicht nur andere zum Lachen gebracht, sondern zugleich sich als Hypochonder, der er ein Leben lang war, geoutet.
0.4 Auf implizierte Negationen achten!
... sie können eine Aussage ungewollt ins Gegenteil verdrehen. - Aus HOHLSPIEGEL 3/2016:
Aus der 'tv Hören und Sehen': "Studien zeigen: Nicht falsche Ernährung, zu wenig Bewegungsmangel oder schlechte Gene sind schuld an Übergewicht."
1. Literarische Beispiele
1.1 Wolf Haas
Im Roman "Das Wetter vor 15 Jahren" stößt man auf der ersten Seite auf den Poeten, der genau gleich heißt wie der Romanautor. Das scheint eine irritierende Authentizität zu garantieren - also gerade nicht Fiktion, von der in diesem Modul gesprochen wird. Aber: Die Interviewerin wird ganz zu Anfang und dann durch das restliche Buch hindurch als Literaturbeilage geführt. Also wird eine der beiden Hauptfiguren von vornherein durch die spezifische Sichtweise/Wertung des Erzählers betrachtet. Das ist das Gegenteil eines soliden und präzisen Verweises auf eine lebende Figur. - Dann kabbeln sich beide, ob sie die Werkbesprechung vom Anfang oder vom Ende her beginnen sollen. Von der story her (Kuss nach 15 Jahren) müsste der Kuss chronologisch am Schluss stehen. Aber der Autor stellt um, erfindet seine eigenen inneren Zusammenhänge und Logiken (plot): "Mein Problem war weniger der Anfang, also wie fang ich an, sondern wo tu ich den Kuss hin. Man kann den ja nicht hinten, wo er fällig ist sozusagen. Das ist ja unerträglich."(5)
Leser erfahren durch solche Impulse, dass Geschichten vielfältig konstruiert sind, von Interpretationen und Strategien abhängen. Nichts ists mit Objektivität.
1.2 Umberto Eco, Der Name der Rose
Der Autor knüpft im Vorwort zu seinem Roman - wohl - an seinen seriösen Ruf als Semiotik-Professor an. Also wird er einen gut recherchierten Stoff bieten - zumal man Eco bis dahin nicht als Romanautor kennengelernt hatte. - Diese Erwartung der LeserInnen greift der Autor im Vorwort offenbar auf und berichtet von seiner Jagd nach den mittelalterlichen Berichten an verschiedenen Orten: Prag, Stift Melk usw. bis Südamerika. Das sieht so aus, als würde seriöse textgeschichtliche Forschung dokumentiert: Vgl. 0.11 Nicht behandelt, aber möglich: Textgeschichte
Nur - leider, leider: Überall passieren Missgeschicke. Sie häufen sich derart, dass man am Schluss verwirrt dasteht und zweierlei merkt:
- Das erhoffte Manuskript hat sich verflüchtigt: [10]. "Ms" = Manuskript. Skizze von H.Schweizer.
- Offenkundig hat der Autor die LeserInnen grandios und schelmisch an der Nase herumgeführt.
Damit hat sich der Autor - unter dem Anschein seriösen Nachforschens - einen kompletten Freiraum für seine nun folgende fiktionale Welt geschaffen. - "Negation" - auf erzählerisch raffinierte Weise.
1.3 Explizite und indirekte Negationen
S. Lenz, Deutschstunde. München 1973, 45. Aufl. S. 254:
Meiner Mutter gelang kein Schrei. Sie warf sich nicht auf Klaas, streichelte ihn nicht, rief ihn nicht bei seinem Namen, küßte ihn nicht, sondern hielt ihn fest an den Schultern, fuhr einmal den rechten Arm hinab und hielt er- schrocken inne, so, als sei dies schon zuviel, und schuldbewußt, beinahe schuldbewußt, legt sie ihre Hand wieder auf die Schulter. Sie untersuchte nicht die Wunde. Eine Weile saß sie bewegungslos da, dann begann ihr Körper zu zucken, sie schluchzte, sie weinte lautlos und gewissermaßen trocken, und mein Vater legte ihr seine Hand auf die Schulter, aber sie schien es nicht zu merken. Mein Vater verstärkte offenbar den Druck seiner Hand, da stand sie auf und drehte sich, immer noch trocken schluch- zend, zum Blumenfenster und fragte gegen das Fenster, was getan werden müsse, und mein Vater sagte, er werde Doktor Gripp anrufen vor allem anderen; denn alles andere sei noch nicht spruchreif.
Gutes Beispiel dafür, dass man das Thema "Negation" nicht mit der Suche allein nach Negationswörtern verwechseln darf. "Negation" kann vielfältig zum Ausdruck gebracht/angedeutet werden. = typisch pragmatischer Beobachtungsgesichtspunkt.
(267) Als das Tier zu scharren begann und vorn einknickte und seinen Hals flach über den Boden streckte, hob die Alte wieder die Axt auf, nicht um sie ihrem Mann zu geben, sondern als wollte sie nur daran erinnern, was jetzt zu tun sei. Mit der Axt in der Hand ging sie nah an das Tier heran, das sie nicht zu bemerken schien, das nun pendelnd den Kopf bewegte und mehrmals versuchte, eine Wunde am Rückgrat mit der Zunge zu errei- chen, und das darauf - da das nicht gelang - so heftig gegen den Boden schnaufte, das Häcksel und trockene Blätter aufflogen. Das Tier drückte sich von der Wand ab und ließ sich nach einem Augenblick, in dem es wohl Kraft sammelte, zu- rückfallen. Es hechelte. Es machte keinen Versuch mehr, den Schaum abzulecken. Die Spannung, die sichtbar im Körper steckte, ließ nach. Der Schwanz wischte nicht mehr über den Boden. Mit offener Hand zeigte die Alte auf das Tier. Diese Geste, in der die Anklage nicht übersehen werden konnte, war an jeden gerichtet, nicht nur an den alten Holmsen, der hager, mit eisengrauem Haar auf der Ecke des Bretterstapels saß und zur Seite weg- rauchte und dem man die Not anmerken konnte, seine Gedanken in eine Reihenfolge zu bringen, und so weiter. Er saß da mit abfallenden Schul- tern und vermied es, das verwundete Tier anzusehen.
2. Negation
Wir sind im Bereich des Endes der Pragmatik. Es wäre sträflich, das Stichwort Negation immer noch mit lediglich einigen Negationswörtern zu verbinden. Verneinungen können auch in Verb- oder Nominalbedeutungen stecken, in metaphorischer oder weiteren Formen übertragenen Sprachgebrauchs, in non-verbalen Handlungen, und schließlich in Formulierungen, die man zwar als Negation versteht, sie aber nicht (sprachgeschichtlich) ohne weiteres herleiten kann.
2.1 Einzelsprache Schwäbisch
aus einem Beitrag von H. Petershagen in SWP, 23.7.2011:
" 'Ihr Mutter isch aber no recht rüschtig.' - Pfeifedeckel! Des isch mei Frau.' ... Pfeifedeckel! Diese Antwort bedeutet Frustration - für den, der sie erteilt oder für den, dem sie zuteil wird. Oder für beide. Die Übersetzung ist klar: Von wegen! Denkste! Pustekuchen! Scheiben- kleister! [Warum dann aber die Rede von "Pfeife" und "Deckel"? Vermutung:] Allerdings war das Wort 'scheißen' noch bis vor Kurzem auch unter Schwaben verpönt. Man wich daher auf andere, harmlose Verben aus, etwa auf pfeifen, das heute noch im Dünnpfiff steckt - und das in dieser Bedeutung auch der Wendung "Pfeif drauf!" einen anderen - klaren - Sinn verleiht. Könnte diese Bedeutung auch im Pfeifendeckel stecken? Ja, durchaus - sofern man dieses Wort in einen Satz auflöst: Pfeif en Deckel: Scheiß in den Hut.
Ein solcher Spruch ist zwar nirgends überliefert, aber er fügt sich nahtlos in die zahllosen Abwei- sungen, die mit Deutschlands beliebtestem Fäkal- wort gebildet sind. Ersetzte man dieses durch pfeifen, war der Spruch salonfähig - so salonfähig, dass man seine eigentliche Bedeutung vergaß und ihn als Rauchutensil missverstand, das auf schwäbisch Pfeifedeckel heißt."
2.2 Negation und Modalität
"Die Polizei rät, Wohnungen gut zu sichern, und warnt, bei Geräuschen eine 'direkte Konfrontation' mit einem Einbrecher zu vermeiden." (Süddeutsche Zeitung)
(Hohlspiegel 45/2011). - <<RATEN>> heißt, x empfiehlt einem anderen ein bestimmtes Handeln. <<WARNEN>> ist der negative Gegenpol: von dem nachfolgend genannten Handeln wird abgeraten. Beide Verbbedeutungen gehören also zu 4.083 Modalitäten – »Register« INITIATIVE. Sie sind die abgeschwächte Variante gegenüber Befehl vs. Verbot. Jedenfalls sollte jeweils positiv folgen, um welche Handlung es geht. Im aktuellen Fall liefert der Redakteur jedoch eine Handlung, die ebenfalls eine Negation einschließt. Aber es sollte sicher nicht aufgerufen werden, offensiv auf Einbrecher loszugehen... - Es hat sich einer bei den Negationen verhaspelt.
2.3 "Nicht-Existenz von"
Die Bedeutung <<VERSCHEUCHEN>> - gleichgültig in welcher Einzelsprache - besagt, die Existenz eines Objekts im Umfeld des Sprechers sei unerwünscht. <<VERSCHEUCHEN>> sorgt dafür, dass jenes Objekt (das auch eine Person sein kann) aus dem Blickfeld verschwindet. Irgendwo mag es dann weiterhin existieren, aber nicht im Wahrnehmungsbereich des Sprechers.
"Ein Mann geht durch die Innenstadt und klatscht immer wieder kräftig in die Hände. Darauf ange- sprochen, warum er das mache, antwortet er: 'Damit vertreibe ich die Nashörner'. Einwand: 'Aber hier gibt es doch keine Nashörner!' Darauf der Mann: 'Na sehen Sie, wie erfolgreich ich bin!'"
Das könnte animieren, nun auf pragmatischer Ebene, das Thema "Existenz" aus der Semantik aufzugreifen: 4.0612 Existenzsätze – Streit ums Thema / Subjekt.
2.4 Negieren einer Befürchtung
Aus H. Fallada, Kleiner Mann - was nun? 4. Aufl. Berlin 2012.
(169) Lämmchen stopft weiter. Die Tür tut sich einen Spalt auf, und Frau Marie Pinnebergs ziemlich verwuschelter Kopf schaut herein. "Hans noch nicht da?" fragt sie heute zum fünften- oder sechstenmal." "Nein. Noch nicht", sagt Lämmchen kurz, denn sie ärgert sich. "Es ist aber schon halb acht. Er wird doch nicht ---?" "Er wird doch nicht was?" fragt Lämmchen etwas scharf. Aber die Alte ist schlau. "Werde mich hüten, teure Schwiegertochter!" lacht sie. "Du hast natürlich einen Mustermann, bei dem kommt es nicht vor, daß er am Lohntag ausbleibt und einen kippt." "Der Junge kippt nie einen", erklärt Lämmchen. "Eben. Ich sage es ja, bei deinem Mann kommt das nicht vor." "Kommt auch nicht." "Nein. Nein." "Nein." (170) Der Kopf von Mia Pinneberg verschwindet, Lämmchen ist wieder allein. Olle Ziege, denkt sie böse. Immer hetzen und stänkern. Dabei hat sie nur Angst um ihre Miete. Na, wenn sie auf hundert rechnet ... Lämmchen stopft weiter.
2.5 Unübersichtlich: mehrfache Negationen
... und dann noch z.T. in pragmatisch-versteckter Form. Da kann man als Journalist bisweilen ausrutschen und im Hohlspiegel 47/2014. Den Satz aus der Welt zu beschreiben, erfordert etwas Mühe, weil allzuviele Abstrakta [11] enthalten sind. Der Reihe nach:
"Am heutigen Mittwoch werden in Berlin mindestens 50 Staaten weitgehend unproblematisch. ein Abkommen ... <<ABKOMMEN>> meint "Übereinkunft", das Gegenteil einer Negation. gegen Signal, dass nun eine zu negierende Position genannt werden wird. Schon bei "Näherbeschreibungen" [12] - eine solche liegt hier vor, hatten wir die Funktion adversativ genannt: "aber nicht". =NEGATION1 die Bekämpfung Abstraktum, das einen Konflikt voraussetzt, bei dem die gegnerische Seite kein Existenz- recht hat. =NEGATION2 von Steuerhinterziehung Doppeltes Abstraktum, das ebenfalls einen Konflikt voraussetzt: <<HINTERZIEHEN>> = "Nicht zahlen, was gefordert ist" =NEGATION3 unterzeichnen."
Was also meint die Meldung bzw. wo liegt der Fehler?
2.6 "Unsinnswitz" von Sigmund Freud
Schön verquickt sind die Komponenten "Präsupposition", Frage der "Nicht-/Existenz", Gedankenspiel = Register IMAGINATION, und dabei "Negation" - zitiert nach SPIEGEL 20/2015 S.119:
"Niemals geboren zu werden wäre das Beste für die sterblichen Menschenkinder." Aber unter 100 000 Menschen passiere dies kaum einem.
3. Politik
3.1 Volksentscheid zu Stuttgart 21
Die Volksabstimmung (Ende November 2011) zum neuen Bahnhofsprojekt in Stuttgart war sprachlogisch eine Herausforderung. Trotz aller Erläuterungsversuche im Vorfeld kann man annehmen, dass ein großer Prozentsatz der Stimmabgaben auf der Basis eines Missverständnisses erfolgte - was den Baubeschluss - dafür oder dagegen - nicht unwesentlich beeinflusste.
Präsupponiert ist das Wissen, bzw. es wird im Vorfeld möglichst breit kommuniziert, dass die Landesregierung nicht einfach für oder gegen ein Bauprojekt votieren kann. Wenn die Bahn einen neuen Bahnhof für richtig hält, kann sie das Projekt vorantreiben. Die politische Seite kann allenfalls entscheiden, ob sie sich finanziell an diesem Projekt beteiligt oder nicht. Gegen- stand der Befragung war also nicht der Bahnhof, sondern ein Gesetz, das den Ausstieg des Landes aus der Finanzierung zum Ziel hat. Wegen dieser dazwischengeschobenen Ebene drehen sich die Antworten bei Zustimmung/Ablehnung um. Im Klartext: Wer gegen den neuen Bahnhof ist, musste mit "Ja" stimmen; wer für den neuen Bahnhof ist, musste "Nein" ankreuzen.
Ist dies logisch schon vertrackt, so wird die Information durch einen sprachlich abschreckenden Erläuterungssatz auf dem Stimmzettel noch mehr verdunkelt.
"Mit Ja stimmen Sie für die Man stimmt zu: Verpflichtung der Landesregierung, Register INITIATIVE: man fordert die Regierung zum Handeln auf Kündigungsrechte zur Auflösung der 2 Abstrakta mit Negationscharakter = Kern des angestrebten Handelns vertraglichen Vereinbarungen mit frühere vertragliche Selbstverpflichtung Finanzierungspflichten des Landes zu finanziellem Beitrag (= Bejahung des Bahnhofsprojekts) bezüglich des Bahnprojekts Stuttgart 21 auszuüben." = Abstandnehmen vom bisherigen Unterstützen des Projekts
Die Erläuterung muss zweifellos juristisch korrekt sein. Ausufern soll sie auch nicht. Ob sprachlich lange Sätze mit vielen Abstrakta deswegen zwangsläufig sind, sei bezweifelt. Als Hilfestellung für das Wahlvolk ist der genannte Satz jedenfalls eine Zumutung.
Annahme: Der Anteil von "Ja"-Stimmen war deutlich höher, als die Zahl der Projektgegner. Aufgrund nicht durchschauter Negationen/Präsuppositionen werden viele Befürworter des neuen Bahnhofs unfreiwillig dazu beigetragen haben, dass das Projekt gestoppt wird. Ob das dann von der Stimmenzahl her reicht, ist eine andere Frage. Der 'Wahlkampf' hat begonnen - mit den absehbaren Komplikationen: "Nein zum Kündigungsgesetz!" heißt ein Plakat. Bahnhofsbefürworter müssen sich klar machen, dass sie damit gemeint sind. Oder es werden dadurch die grundsätzlichen Nein-Sager erreicht - mit dem Nebeneffekt, dass sie mit ihrer Stimme den Neubau unterstützen.--Hs 07:54, 7. Nov. 2011 (UTC)
3.2 Obama zur Abhöraffäre (NSA)
Aus der Kolumne von Jakob Augstein (20.1.2014 - Spiegel-Online)
Im Gespräch mit dem ZDF ist Barack Obama ein Satz entglitten, der mehr Wahrheit enthält, als der präsidentiellen Pressestelle lieb sein kann: "Der Präsident der Vereinigten Staaten ist nicht der große Kaiser der ganzen Welt, sondern nur ein Mensch, ein Rädchen in diesem Räderwerk." Wenn einer glaubt, diesen Satz so aussprechen zu müssen, meint er in Wahrheit das Gegenteil. Und das passt auch zu Rede und Interview. In all den klugen und freundlichen Worten steckte am Ende nur eine Botschaft: Die USA können Dinge, die andere nicht können, und wenn sie es für angemessen halten, werden sie diese Dinge tun. ... Deutlicher und klarer denn je tritt jetzt das Selbstverständnis hervor, das im Weißen Haus gepflegt wird: Der Präsident ist die Quelle aller Macht und damit die Quelle allen Rechts. Kaiser denken so.
nicht der große Kaiser sei der Präsident. Sondern bildhaft erläutert: ein "Rädchen" - so vernimmt man den Wortsinn. Wegen der Negation muss man die Aussage umdrehen - da hat Augstein sicher recht: Räumt man alle Beschwichtigung und Bagatellisierung beiseite, wird klar: so spricht nur einer, der über alles zu herrschen glaubt = gemeinte Bedeutung.
4. Wirtschaft
4.1 Stellenangebote
"Sie haben sportliche Interessen und haben bereits Erfahrung im Verkauf gesammelt. Sie überzeugen durch positive Ausstrahlung und besitzen eine hohe Kunden- und Service-Orientierung."
4 Aussagesätze - im Wortsinn. Welche Menschen werden damit beschrieben? Wer sind die "Sie"? - All das bleibt semantisch offen und unklar.
Pragmatisch notiert man,
- dass die Sätze in der Rubrik "Stellenmarkt" in der Zeitung stehen. Demnach ist das "Sie" nicht die Bezeichnung eines Plurals, sondern eine Anrede: ich als Leser soll direkt angesprochen sein.
- Wenn ich als Leser also reagieren soll, dann lautet die Auskunft weitgehend: Nein, stimmt nicht = mein Präsuppositionsprotest! Die meisten Zuschreibungen gelten für meine Person nicht.
- Sollen die Sätze dennoch einen Sinn haben, ist eine Verschiebung anzunehmen: Aussagesätze => Register IMAGINATION. Es handelt sich um nicht-markierte (d.h. keine Konjunktion) Bedingungssätze: "Wenn Sie ..."
- Der Zweck der Verschlüsselung: indirekter Sprechakt APPELL im Sinn von: melden Sie sich gefälligst, wir brauchen Leute im Verkauf! Frecherweise tun wir dabei wohlwollend so, als hätten Sie all die schönen Attribute im Überfluss.
5. Negation durch Zerstörung
Man kann sich Worte sparen und dennoch Wichtiges "sagen". Handlungen sind zunächst das, als was man sie wahrnimmt - das wäre ihre SEMANTIK. Aber häufig bedeuten sie auch einiges - das wäre ihre PRAGMATIK. Gerade wenn es radikal um "Existenz / Nicht-Existenz" geht, kann die Frage nach der 'gemeinten Bedeutung' nicht mehr übersehen werden.
5.1 Jan Hus
Der Prager Kirchenreformer hatte um 1410 einige Unruhe durch Predigten im Volk erzeugt. In einigen Punkten folgte er dem englischen Kirchenreformen John Wyclif. Die Vertreter der Hierarchie wurden unruhig. Wann und wie würden sie auf die Forderungen von Hus positiv reagieren?
"Im erzbischöflichen Hof auf der Prager Kleinseite wurde am 16. Juli 1410 bei geschlossenen Pforten, jedoch unter Glockengeläut und dem Gesang des Te Deum laudamus, durch die anwesenden Prälaten und die zahlreich versammelte Geistlichkeit ein Schei- terhaufen entzündet, auf dem man die Schriften Wyclifs den Flammen überantwortete. Eine Aktion mit Symbolcharakter, die freilich im Zeitalter des aufkommenden Konziliarismus ziemlich antiquiert an- mutete, zumal selbst führende Theologieprofessoren in Paris und Bologna einen solchen Akt strikt ab- lehnten. Aktion erzeugt Gegenreaktion, und so ver- wundert es nicht, dass - kaum war das Feuer des Scheiterhaufens erloschen - auf dem gegenüberlie- genden Moldauufer erste Straßenunruhen zur Unter- stützung der Reformpartei entflammten, die den Erzbischof veranlassten, mit seinem Gefolge flucht- artig die Hauptstadt zu verlassen ... [Fluchtort] von wo aus der Prager Metropolit zwei Tage später über Hus und dessen Mitappellanten als rebelles et inobedientes ac catholicae fidei impugnatores (Rebellen und Ungehorsame sowie Bekämpfer des katho- lischen Glaubens) den Kirchenbann verhängte. Die Prager Pfarrer mussten die undankbare Aufgabe übernehmen, die Exkommunikation in der Diözese Prag bekannt zu machen." (aus: Th. Krzenck, Johannes Hus. Theologe, Kirchenreformer, Märtyrer. Persönlichkeit und Geschichte 170. Gleichen.Zürich 2011. S. 104f)
D.h. auf der anderen Moldauseite wurde der Akt des Verbrennens sehr wohl als sprachliche Botschaft verstanden. Entsprechend waren die Gegenreaktionen - die wiederum durch Exkommunikation = Ausschluss aus der kirchlichen Gemeinschaft beantwortet wurden. Der Konflikt schaukelte sich weiter hoch - 5 Jahre später stand Jan Hus selbst auf dem Scheiterhaufen - während des Konzils zu Konstanz.
Die "Existenz" oder - im aktuellen Fall - "Nicht-Existenz" anzusprechen, sprachlich oder durch eine symbolische Aktion, ist immer von eigener Radikalität, darf nicht mit sonstigen Worten und Handlungen vermischt werden. Vgl. [13] - in der SEMANTIK startet diese Denkform und wird - wie aktuell - in der PRAGMATIK weitergeführt.