4.7 Lesen lernen
Inhaltsverzeichnis
- 1 Aus dem Inhalt
- 2 Praxis - Bitte Ihren Eintrag!
- 2.1 0. Ausklang
- 2.1.1 0.1 Lesen als Entmündigung ?
- 2.1.2 0.2 Funktion von Literatur und Lesen
- 2.1.3 0.3 Nachdenken über das Lesen im Islam
- 2.1.4 0.4 Nachdenken über das Hören im Islam
- 2.1.5 0.5 Jeder 6. deutsche Erwachsene ...
- 2.1.6 0.6 "Leser, lernt noch kundiger lesen"
- 2.1.7 0.7 Lesen lernen = Essen lernen?
- 2.1.8 0.8 Auswendig lernen?
- 2.1.9 0.9 Lesen ist subversiv
- 2.1.10 0.91 Josefsgeschichte: subversiv
- 2.1.11 0.92 Bücherverbote - Documenta 14 (2017)
- 2.1.12 0.10 Erich Fromm, "Haben" oder "Sein"
- 2.1.13 0.11 "Mehr lesen, bitte!"
- 2.2 1. Übungsfelder
- 2.2.1 1.1 Wahrnehmungsschulung im Kindergarten
- 2.2.2 1.2 Sommerakademie-Blaubeuren
- 2.2.3 1.3 Abitursaufgaben
- 2.2.4 1.4 Vorlesen => Lesen
- 2.2.5 1.4.1 Was wollte uns der Dichter sagen ?
- 2.2.6 1.4.2 Lesen lernen
- 2.2.7 1.4.3 Vorlesen lernen
- 2.2.8 1.4.4 In den Schlaf lesen
- 2.2.9 1.4.5 Man merkt es, ob einer liest
- 2.2.10 1.5 Bildbeschreibung
- 2.2.11 1.5.1 Rembrandt, Heimkehr des verlorenen Sohnes
- 2.3 2. Grundsatzfrage: "Was bringts?"
- 2.4 3. "Ran an den Speck!"
- 2.5 4. Empfehlung des Lesens (Wortsinn) als Warnung vor dem Lesen (gemeinte Bedeutung)
- 2.6 5. Der Spiegel 50/2014: "Lesen und lesen lassen"
- 2.1 0. Ausklang
Aus dem Inhalt
Zugegeben, vom "Lesen" ist etwas spät die Rede, am Ende der Grammatik. Dies ist aber kein Lapsus. Es wurde nicht übersehen, dass man in der Grundschule das Lesen lernt. Lesen aber im Sinn von "Entziffern von Buchstaben". Für Erwachsene steht - außer dem Lesen von Alltagstexten - die Konfrontation mit künstlerischen Hervorbringungen an. Aufmerksames, angemessenes Wahrnehmen von Texten, Bildern, Musikwerken, Filmen usw. Die Vermutung ist, dass in diesem Sinn Lesen nicht nur neu gelernt, sondern immer weiter verfeinert, geübt werden muss.
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Praxis - Bitte Ihren Eintrag!
0. Ausklang
Das Kapitel Pragmatik endet mit dieser Ziffer 4.7 und Unterpunkten. Die Überschrift "Lesen lernen" klingt etwas paradox - weil man ja dauernd schon liest. Aber es wird hier erläutert, dass in der Regel auch Erwachsene, oft auch Pädagogen, für ein literarisch angemessenes Lesen noch einiges lernen und üben können.
Interessiertes Durchlesen der Alternativ-Grammatik allein wird in der Regel zu wenig sein. Vor allem wenn es um die Aktivierung der Gesichtspunkte angesichts eines konkreten poetischen Textes geht.
0.1 Lesen als Entmündigung ?
Natürlich nicht, sondern Lesen als Stärkung/Veränderung der eigenen geistigen Ausstattung. Die Frage der Überschrift wurde aber angestoßen durch F. Kafka, "Der Prozess", Kapitel 8: [1], Ziff. 123.7ff; 127.122-156.
Der Advokat hat die Klienten Block (seit 5 Jahren) und K. (seit kurzem). Weil der Advokat im Fall von K. nichts unternommen hat, ist K. entschlossen zu kündigen. Dabei erfährt er, dass Block seit langem vom Advokaten hingehalten, bisweilen im Dienstmädchenzimmer eingeschlossen und mit Schriften versorgt wird. Auf dass Block ahne, wie kompliziert die juristische Materie sei. Faktisch wird damit aber nur die Untätigkeit des Advokaten vertuscht. K. merkt das früher. Block scheint kein Problem zu empfinden, wird nicht misstrauisch, sondern "studiert ununterbrochen" die Schriften. Ergebnis: Seine Persönlichkeit ist deformiert. Hündisch kommt er herein (127.1ff); selbst für Zuschauer war dies entwürdigend (127.117); die Methode des Advokaten war gewesen dafür zu sorgen, dass der Klient die Welt vergisst (127.118) und einverstanden war, dass der Prozess sich endlos dahinschleppte. Der Klient war zum Hund des Advokaten mutiert (127.119). Er ist zufrieden damit, sich mit dem Bettvorleger des kranken Advokaten beschäftigen zu können (127.209).
Die Behauptung des Gleichnisses im Kontext des Romans ist also: autoritäre, korrupte, faule Systeme können die Untergebenen mit Schriften füttern und die Aufforderung zum Studium ausgeben - nicht um die Untergebenen zu stärken, sondern sie zu beschäftigen, sie geistig einzunebeln. Es fällt schwer, nicht an den Umgang von Religions- gemeinschaften mit ihren Basisschriften zu denken, v.a. wenn man sieht, dass ein Brückenschlag zu anderen Wissenschaftszweigen weitgehend vermieden wird. Man ist sich selbst genug. Einem methodischen Nachdenken, so dass man gesicherte Fortschritte erzielen könnte, wird ausgewichen. Der Apparat beschäftigt sich selbst, dreht sich häufig genug im Kreise - was oft auch noch explizit gerechtfertigt wird (z.B. in der Formel: "die immer gleichbleibende Lehre der Kirche"). Ob Koranschulen, Jeschiwot, kirchliche Exegese - möglicherweise hat Kafka in Bezug auf alle drei Typen etwas zu sagen. Bezüglich der christlichen Exegese wird dieses "Drehen im Kreise", die Nicht-Beschäfti- gung mit Methodenfragen erläutert anhand der alt- testamentlichen Josefsgeschichte: vgl. [2], vgl. darin "Einleitung".
Da nichts auf der Welt eindeutig ist, muss man auch bei dem doch so positiv besetzten Stichwort "Lesen" genauer hinschauen und kritisch betrachten, in welchem Sinn und in welcher Funktion das empfohlene "Lesen" denn gemeint ist. Als Ruhigstellung und geistige Selbstbefriedigung, oder als Impuls, die eigene Wahrnehmung zu schärfen, durch immer mehr zugelassene Provokationen sich selbst zu verändern - und damit auch das eigene Handeln, Welt-Gestalten?
0.2 Funktion von Literatur und Lesen
Wer sich durch die dazwischengestreuten Werbeeinblendungen nicht stören lässt, kann ein anregendes Interview mit Hans Magnus Enzensberger anschauen - [3] - und wird viele Rubriken, die in der Alternativ-Grammatik ein eigenes Modul erhalten hatten, wiedererkennen - die ganze Spannbreite von (Ausdrucks-)Syntax - Semantik - Pragmatik umfassend.
0.21 Früher: "Literarische Gesellschaften"
- und zwar im 18. Jahrhundert. Aus der Kant-Biografie von M. Kühn (197):
"Literarische Gesellschaften" waren im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in Deutschland große Mode. In der Mehrzahl ähnelten sie den größeren und förmlicheren Lesegesellschaften, die es ebenfalls überall im Lande gab. In Ermangelung öffentlicher Bibliotheken bildeten sich diese Vereinigungen, weil Bücher und Zeitschrif- ten verhältnismäßig teuer waren. Mitglieder der Lese- gesellschaften konnten viel mehr Bücher, Zeitschriften und Zeitungen lesen, als sie sich sonst hätten leisten können. Der Hauptnutzen der Vereinigungen bestand in den Sammelabonnements, aber auch die literarische Debatte erwies sich als wichtig. Natürlich las man nicht nur Belletristik. Einen wichtigen Teil der Mission einer Lesegesellschaft stellt auch der Erwerb praktischer Kenntnisse durch ihre Mitglieder dar. Lesegesellschaften gaben sich eine 'Organisations- struktur' mit 'demokratische[r] Form'. 'Das wichtigste Gremium war die Mitgliederversammlung, die zumeist einmal im Monat stattfand ... Neben der allgemeinen Versammlung gab es in aller Regel noch einen von ihr gewählten Ausschuß mit einem Direktor ..., dazu einen und einen Sekretär.' Grundlegend für diese Gesellschaften war eine egalitäre Einstellung. Klasse und Rang galten zumindest als gleichgültig, auch wenn sie nicht immer ohne Einfluß waren. Die Gesellschaften waren Aufklärung in Praxis ... Daß es Kant für nötig hielt, sich an einem derartigen Unternehmen zu beteiligen, zeigt, wie ernst er die Anliegen der Aufklärung nahm.
Wir kommen noch auf einen "Lesekreis" zu sprechen, praktizieren ihn auch seit langem im Tübinger Raum. Motivation und Ausrichtung sind aber deutlich verschieden:
- der wirtschaftliche Aspekt - wie komme ich günstig an neu erschienene Literatur? - ist heuzutage ohne Belang.
- Es ist gerade nicht das Interesse des Lesekreises, große Textmengen zu verschlingen. Im Gegenteil: ein kurzer, gut überschaubarer Text wird sehr langsam gelesen.
- Motivation ist gerade nicht die 'Informationsbeschaffung', sondern auf die Art der Sprache zu achten, welche Interessen sie erkennen lässt, welche Wirkungen sie erzielt.
0.22 Standardfehler bei textgestützten Religionen
... also das Judentum, das Christentum, der Islam. Wer auf seriöses Lesen achten will, sollte für typische Argumentationsmuster und Verhaltensweisen in solchen Rahmenbedingungen aufmerksam sein:
- Lesen der Basis-Schrift (also z.B. Bibel oder Koran) = Vernehmen des Wortes Gottes. - Beachten: dies ist ein Kurzschluss, der übersieht / verdrängt, dass man einen realen Text liest, der über lange Zeit tradiert worden war - von leibhaftigen Menschen -, der von einem menschlichen Schreiber/Autor stammt - ob wir dessen Namen und Lebensumstände kennen oder nicht. Meist spielten in der Überlieferungskette unterschiedlichste Sprachen eine Rolle - sie zu entziffern braucht man heute ausgebildete Spezialisten, die über das angemessene Verständnis bisweilen kontrovers diskutieren müssen. - Ob der letztlich heute gelesene alte Text mich noch so trifft, dass ich geneigt bin das Sprachbild anzuwenden, der Text sei für mich "Gottes Wort" geworden, hängt von mehreren Faktoren ab. Der alte Text muss seine Fremdheit und provokative Kraft bewahren - und dazu muss er sorgfältig, d.h. auch geschult gelesen werden -, ich darf ihn nicht für ohnehin schon bestehende Auffassungen bestätigend vereinnahmen.
- Wer von Wort Gottes spricht, beachtet in der Regel nicht, dass es sich um ein Sprachbild handelt, vgl. [4]. Die Bedeutung Gott ist ein Abstraktum, muss also dekonstruiert werden, vgl. [5]. Gott ist nicht ein Partner wie jeder andere, real mir gegenübertretende. Eine solche Naivität darf nicht zugelassen werden. Auch die Rede von Gott ist so in meinen sonstigen Sprachgebrauch zu übersetzen, dass sie keine unverstandene (aber ergriffen hingenommene) Enklave bildet, vgl. [6].
- 'Lesen' in solchen Kontexten heißt häufig, dass man nicht zusammenhängende Texte als ganze und aufmerksam für viele Details - bis ins Grammatische hinein - wahrnimmt, sondern einzelne Begriffe, Aussagen, Sentenzen herausklaubt, sie vergleicht mit dem, was man im Sinn religiöser Dogmatik schon gelernt hatte. Oder noch schlimmer: Einzelsätze aus verschiedenen Texten werden in willkürlicher Kreativität hintereinander gehängt. Auf diese Weise bastelt man sich Bestätigungen für die Einstellungen, die man ohnehin schon hat. Und weil man die Bestätigungen sieht (die man sich selber zusammengesucht hatte), lobt man die alten Texte und betont, sie stellten das "Wort Gottes" dar. Psychologen würden für solches Kreisen um sich selbst das Stichwort: narzisstisch verwenden.
0.23 Lesen - Luther - die Machtfrage
aus: "Luther wollte mehr." Eugen Drewermann über den Reformator und seinen Glauben, im Gespräch mit Jürgen Hoeren. Freiburg 2016.
(136) "Hat eigentlich die katholische Kirche begriffen, dass diese deutsche ureigene Bibelübersetzung von Luther für sie eine Herausforderung sein musste?" Das hat sie über 100 Jahre vorher schon bei Wyclif in Eng- land und bei den Hussiten in Böhmen lernen können: Wenn dem Volk die Bibel gegeben wird, zumindest denen, die lesen und schreiben können, wird ihnen ja auch Kompetenz im Beurtei- len gegeben, ja sogar die Pflicht auferlegt, im eigenen Gewissen das Leben zu prüfen am Wort Gottes in der Bibel. Damit verliert die Kirche ihre Monopolstellung in der Aus- legung dessen, was im menschlichen Leben gilt. Das ist selbstredend auch eine Machtfrage, die von Rom denn auch von Anfang an so gesehen wurde."
0.3 Nachdenken über das Lesen im Islam
... wenn denn dort zugelassen ist, dass der Koran Literatur ist. Das ist nicht selbstverständlich. Standard ist zu sagen, der Koran sei "Gottes Wort" - damit ist dann jegliches Nachdenken über Sprache und Texte, damit auch über das Lesen verboten. Der Forscher Nasr Hamid Abu Zaid ließ sich - mit anderen - nicht auf das Verbot ein, sondern meinte - nach dem Buch von Benzine, Die neuen Denker. 2012. S. 191:
"Beim Vorgang des Lesens sind mehrere Aspekte zu berücksichtigen, insbesondere: - Der psychologische Aspekt: In welcher geistigen Verfassung nähere ich mich dem Text und verstehe ich ihn? - Der ontologische Aspekt: Welches sind die Bedingungen und die Möglichkeiten, über die ich verfüge, um zu diesem Verständnis zu gelangen? - Der wissenschaftliche Aspekt: Inwieweit ist die von mir verwendete Methode legitim? Ist sie präzise genug? Schließt sie Willkür aus? - Der soziologische Aspekt: Wie wirken sich meine Bildung, meine Kultur, mein Umfeld, meine soziale Stellung und meine Aktivitäten innerhalb der Gesellschaft zwangsläu- fig auf meine Art und Weise aus, wie ich den Text interpretiere? - Der existentielle Aspekt: Wie interpretiere ich mich selbst in Konfrontation mit dem Text? - Der phänomenologische Aspekt: Was ist ein Text? Wie existiert er? Wie ist er entstanden? - Und schließlich der theologische Aspekt: Wie ist ein Text zu interpretieren, der eine Kommunikation mit Gott darstellt? Diese verschiedenen Dimensionen des Lektüre- und Ausle- gungsprozesses zeigen deutlich, daß jede Interpretation das Ergebnis einer besonderen Beziehung zwischen einem Subjekt (dem Ausleger) und einem Objekt (dem Text) ist. Weil diese Beziehungen immer einzigartig sind, kann meine heutige Interpretation nicht mit einer Auslegung aus einer anderen Zeit identisch sein."
0.4 Nachdenken über das Hören im Islam
Aus dem gleichen Buch wie in 0.3, S.253:
"Natürlich vergessen die neuen Denker des Islams dabei nicht, daß der Koran für die Gläubigen einen besonderen Status hat. Sie sind sich bewußt, daß der Koran nicht einfach auf einen festen Bestand an 'Inhalten' reduziert werden kann. Darüber hinaus ist ihnen bewußt, daß der Koran nicht an erster Stelle ein Buch - das 'Buch' - ist, sondern ein Diskurs, eine himmlische Äußerung, ein göttliches Wort, das den Geist des Schöpfers zum Ausdruck bringt. Dieses Wort und sein Gehörtwerden kamen vor dem Buch - und der geschriebene Text wird wieder zum Wort, wenn er mit lauter Stimme gelesen wird, wie es in der islamischen Welt üblich ist. Daher würdigen die neuen Denker die Tatsache, daß das Wort im Zusammenhang mit dem Koran immer das Ergebnis eines Gehörtwerdens ist. Durch einen Prozeß der Aneignung, dessen erste Stufe das Hören ist, werden die Wörter des Textes wieder zum 'Wort'. Von daher ist das Hören im Islam eine wahrhaft spirituelle Disziplin."
0.5 Jeder 6. deutsche Erwachsene ...
Ganz falsch liegen wir mit unserer Bemühung, Texte sorgfältig zu lesen, nicht - laut einer im Okt. 2013 veröffentlichten Studie. Aus SPIEGEL-online. Das Ergebnis - es wurden zusätzlich auch "Rechnen" und "Computerbenutzung" getestet - kommt einem Desaster gleich:
Lesekompetenz: Beim Verstehen, Interpretieren und Bewerten von Texten erreichten die deutschen Teilnehmer leicht unterdurchschnittliche Werte und landeten auf Platz 15 von 23. Die höchste Kompetenzstufen (4 und 5) erzielten 10,7 Prozent der deutschen Testpersonen, der OECD-Schnitt liegt bei 11,8 Prozent. Auf Stufe 1 oder niedriger landen 17,5 Prozent der Menschen in Deutschland (OECD-Durchschnitt 15,5 Prozent). Diese Stufe entspricht laut OECD dem Niveau eines zehnjährigen Kindes: Die Befragten sind maximal in der Lage, kurze Texte mit einfachem Vokabular zu lesen und ihnen in stark begrenztem Maße Informationen zu entnehmen. Das beste Leseverständnis nach dieser Auswertung haben die Menschen in Japan und Finnland. Auf den letzten Plätzen landen Spanien und Italien.
Bei einem zeitgleich veröffentlichten Vergleich der Schulleistungen wurden in den westlichen Bundesländern mäßige, allenfalls durchschnittliche Leistungen in Mathematik erzielt, die östlichen Bundesländer schnitten deutlich besser ab. Was steckt da dahinter?
- Ein wesentlicher Grund für Rechenschwäche liegt darin, dass im Mathematikunterricht vermehrt Textaufgaben verwendet werden - der Praxisbezug des Faches soll damit besser sichtbar gemacht werden. Aber die Aufgabenstellung muss über die Kurztexte auch erst erkannt werden. Zunächst ist also die vermeintliche Rechenschwäche eine Leseschwäche.
- Dass die westlichen Bundesländer davon stärker betroffen sind, mag u.a. an ihrem stärkeren Migrantenanteil liegen. Also ist die primäre Aufgabe, die Sprach-/Lese-Fähigkeit zu erhöhen, dann verbessert sich auch das Rechnen.
0.6 "Leser, lernt noch kundiger lesen"
... eine ziemlich überflüssige Mahnung - meint der Berichterstatter der SWP (22.11.2013/Triebold) "...angesichts des anwesenden Tübinger Bildungsbürgertums". Die Mahnung des Poetikdozenten H. M. Enzensberger sei "wohl etwas in den Wind gesprochen" gewesen.
Vielleicht doch nicht ganz 'in den Wind gesprochen'. Was versteht man nicht alles unter Lesen? Zweifellos gibt es in Tübingen viele, die über Literatur - gleich welcher Sprache - sehr gut Bescheid wissen. Aber das ist noch nicht Lesen in dem Sinn, wie wir es verstehen. Zweifellos sind viele zu intellektuellen Diskursen zur Literatur in der Lage - und mischen auch bundesweit mit. Aber auch das ist noch nicht schon Lesen. Nebenbei: Ein gründlicher Einblick in die Tübinger Theologien - wo doch ach so gebildete Menschen tätig sind - bestärkte in der Meinung: in diesen Fächern kann man im hier vertretenen Sinn nicht Lesen, will es auch gar nicht - weil sonst die Dogmatiker und die Kirchenlei- tungen in Schwierigkeiten kämen. Und schließlich: Warum zieht ein Lektürekreis seit über einem Jahrzehnt in starkem Maß LehrerInnen an - wenn sie doch in ihren Fächern schon ausreichend informiert worden sein sollen? Aber offenkundig werden Defizite empfunden und die Ahnung entsteht, es müsse ein qualitativ anderes Wahrnehmen von Literatur geben.
0.7 Lesen lernen = Essen lernen?
...wenn das Hauptstichwort ist: "Achtsamkeit", dann ja: vgl. [7] - das könnte man auch übertragen auf das Erlernen eines Musikinstruments und auf viele weitere Bereiche.
Bleiben wir beim Essen: Der Artikel sagt, man solle bewusst und langsam essen, das fördere auch das Genießen. Auf dieser Basis sei es dann nicht so wichtig, was man esse. - Die Alternativ-Grammatik fährt auf der vergleichbaren Schiene: Es werden längst nicht nur Sprachbeispiele aus dem künstlerischen Bereich genannt, sondern auch viele der Alltagssprache, Kinderwitze, Sprichwörter, bisweilen auch abgedroschene. Man entdeckt jeweils viel, sobald man genauer hinschaut - und wird oft belohnt. - Essen//Lesen: nicht das Was ist entscheidend, sondern Wie man 'konsumiert'.
Eine abschließende Wertung, ob das aufmerksame Lesen sich anregend oder letztlich doch eher anödend ausgewirkt habe, ist ja erlaubt und erwünscht - und in beiden Fällen kann man nun bewusster auch benennen, warum diese Effekte eingetreten sind. Sie fielen nicht vom Himmel, sondern basieren auf benennbaren, grammatisch-literarischen Mechanismen und Strukturen. Dann mag inhaltlich der gelesene Text unoriginell gewesen sein - die aufmerksame Lektüre hat mir jedoch wenigstens weitere Einsichten beschert, wieso es zu diesem Gesamteindruck gekommen war: selbst dann ist also das Urteil möglich, dass das Lesen sich 'gelohnt' habe.
0.8 Auswendig lernen?
Etwa Gedichte zu Weihnachten? - Aus einem Text von Friedemann Kohler (dpa): SWP 22.12.2014)
"Das ist mausetot", sagt der Frankfurter Literaturwissenschaftler Heiner Boencke über das Auswendiglernen von Gedichten zu Weihnachten. Die mündliche Tradition, repräsentiert meist durch die Großeltern, gehe verloren. "Dieses immaterielle Kulturgut stirbt aus." Die gute Nachricht: Kinder müssen nicht mehr wie früher zu Weihnachten ihr Sprüchlein auf- sagen. Wehe dem, der einst nicht mindestens diesen Vierzeiler parat hatte: "Lieber guter Weihnachtsmann, schau mich nicht so böse an! Stecke deine Rute ein! Ich will auch immer artig sein." Dass diese Art von schwarzer Pädagogik ver- schwunden ist, findet Christine Kranz von der Stiftung Lesen in Mainz gut. Die Referentin für Leseförderung teilt den Kulturpessimismus in Sachen Lyrik nicht. "Es wird wieder mehr auswendig gelernt", hat sie in Kindergärten und Schulen beobachtet. Und: "Gedichte sind für die Lese- und Sprach- förderung sehr wichtig." Ein Reim, in der Kindheit gelernt, bleibe bis ins Alter im Gedächtnis.
0.9 Lesen ist subversiv
aus SPIEGEL GESCHICHTE 6|2014 98f:
"In allen Phasen des Mittelalters ist die Bibel in Volkssprachen übersetzt worden - ins Alt- und Mittelhochdeutsche, ins Pro- vencalische und ins Englische, lange schon vor Wyclif. Auch ins Polnische, ins Nieder- ländische, in slawische Sprachen. Kirchenführer allerdings trieb die Sorge um, eine nicht autorisierte Übersetzung könne dazu führen, dass die Bibel der katholischen Lehre zuwider ausgelegt würde. Oder dass die Leser verfälschten Texten aufsäßen. So untersagte im Jahre 1199 Papst Innozenz III. die Lektüre der Bibel bei privaten Lese- stunden, die er 'finstere Versammlungen' nannte. Nach dem Albigenserkreuzzug (1229), verbot Gregor IX. allen Laien den 'Besitz von Büchern des Alten oder des Neuen Testaments', Ausnahme: Psalter und Stundenbuch. Bald darauf dekretierten die spanischen Bischöfe auf einer Synode in Taragona: 'Wenn jemand solche Bücher hat, muss er sie inner- halb von acht Tagen ... abgeben, damit sie verbrannt werden können.' Der König ergänzte eine solche Form des Bibelverbots mit dem Hinweis, niemand außer Geistlichen dürfe über den Glauben disputieren, weder öffentlich noch privat. Später wurde dieses Diktum gar in Gesetzes- form gegossen. Die Kleriker behaupteten, so empörte sich ein österreichischer Bibelübersetzer im 14. Jahrhundert, dass nur sie Gottes Wort ver- stünden - dabei hätten sich viele nie wirklich damit beschäftigt. Der Name des Übersetzers ist nicht bekannt. Wahrschein- lich hat er ihn aus guten Gründen verschwiegen. Denn wer sich auf eigene Faust mit der Heiligen Schrift abgab, lebte gefährlich. Erst ein gutes Jahrhundert nach dem Konstanzer Konzil wurde der Bibeltext tatsächlich den meisten Menschen zugänglich, die lesen konn- ten. Dafür sorgte Martin Luther - eine Gestalt, die für heutige Historiker das Ende des Mittelalters markiert."
0.91 Josefsgeschichte: subversiv
"subversiv" heißt auch: überraschend, verblüffend, geltende Standards übergehend usw. Dass dies inhaltlich auch für die biblische Erzählung der Josefsgeschichte zutrifft, kann man näher erforschen in: [8]
Jetzt ist aber das Thema "das Lesen / Vorlesen". Dabei genügt es nicht, nur auf ungewohnte Inhalte zu achten. Vielmehr sorgt die Anlage, Struktur einer guten Erzählung selbst schon für Spannung, atemlose Stille oder an einigen Stellen für Ausbrüche, Lachen usw.
Dass solche Erfahrungen auch beim sehr alten Text der ursprünglichen Josefsgeschichte möglich sind, also nach seiner Befreiung von massenhaften späteren Zusätzen, kann man selbst testen: Der SWR-Hörfunk sendete am Pfingstmontag 1996 die Lesung des Textes, wie er durch ein Team um Harald Schweizer freigelegt worden war. - Sprecher Michael Heinsohn - samt Flötenintermezzi durch Christina Rettich. Moderator: Thomas Vogel. Ein kleines Publikum war anwesend. Interessant bei diesem sind - vollkommen ungeprobt - einige spontane Reaktionen auf erzählerische Finten und Über- raschungen. Der Zeitabstand von 2 1/2 Jahrtausend ist also bei dieser wieder zugänglichen Erzählung keinerlei Problem. Auch aufgesetzte Wertungen - biblischer = 'heiliger' Text u.ä. - sind unnötig und vollkommen fehl am Platz. Die sprachlich-künstle- rische Struktur ist es, die zählt und wirkt. Man kann beim SWR Mitschnittdienst, Baden-Baden, eine Audio-CD bestellen: [9]
0.92 Bücherverbote - Documenta 14 (2017)
Mit Drahtgeflecht wurde in Kassel der Athener Parthenon nachgebildet, vgl. [10]. Der Clou: Die Säulen wurden gepflastert mit ehemals in irgendeinem Land verbotenen Büchern. Die Gesamtaussage somit: Es sind gerade die zunächst verachteten und verfolgten Texte/Bücher, mit denen sich ein Volk letztlich schmücken kann.
0.10 Erich Fromm, "Haben" oder "Sein"
... die Unterscheidung wird in seinem Klassikerbuch auch auf das Lesen angewendet.
Lesen im Modus des "Habens" wird durchgeführt, um anschließend berichten zu können, was im Text drinsteht, Schüler sollen berichten können, sollen ein "Bildungsgut" - man beachte die Verdinglichung - vorweisen können. Sobald man weiß, worauf eine Erzählung hinauswill, hat man das Wesentliche verstanden. Raffend kann man den Text wiedergeben. Lesen im Modus des "Seins" nimmt den Text als Gelegenheit, mit dem Autor in Kontakt, in ein Gespräch zu kommen. Einzelnen Formulierun- gen wird nachgespürt, mit ausreichend Zeit. Die Ahnung kann aufsteigen, was wohl ungesagt den gegebenen Text an Hinweisen begleitet. Es genügt nicht, die ausformulierten Inhalte verstanden zu haben, sondern der "Ton", das Anliegen des Autors werden immer besser erkannt.
0.11 "Mehr lesen, bitte!"
So ist ein Artikel in SWP 29.8.2016 überschrieben. Daraus:
"In der Stockholmer U-Bahn wirken die Smartphones vor den Köpfen junger Fahrgäste wie festmontiert. Bücher oder Papierzeitungen sieht man kaum noch. Die Eroberung des Alltags durch die Bildschirme hat das Stadtbild ver- ändert - und das Lesevermögen junger Schweden im vergan- genen Jahrzehnt drastisch verschlechtert. Laut Pisa-Ran- king haben 20 Prozent der männlichen Neuntklässler in Schweden Schwierigkeiten, einfachere Texte zu verstehen. Das Land rutschte aus den Spitzen- auf die Schlussplätze.
Die rot-grüne Regierung in Stockholm will diesen Trend brechen. 'Die Herbstferien werden nun Leseferien, in denen Kommunen und staatliche Institutionen Aktivitäten arran- gieren, die das Lesen fördern', verkündete Ministerpräsi- dent Stefan Löfven diese Woche. [...]
Doch wie sollen die Kinder zum Literaturgenuss animinert werden? Stockholm kündigte an, eine sogenannte Lesedele- gation einzuberufen, die alle Aktivitäten in den Lesefe- rien und darüber hinaus koordiniert und entwickelt. Schu- len, der Kulturbereich und Vereine sollen auf lokaler Ebene mitwirken. Lehrer und Eltern sollen angespornt werden ihr Engagement zu erhöhen.
Johan Unenge, Ex-Lesebotschafter des staatlichen Kultur- rates und im Vorstand der Organisation Lesebewegung, ist begeistert: 'Kinder lesen zu lassen, ist ja nicht teuer. Wir haben gute Infrastrukturen und müssen sie nur richtig ausrichten. In Schweden hat fast jede Schule eine eigene Bibliothek, hinzu kommen viele andere Einrichtungen.'
Damit die wieder vermehrt von Kindern und Jugendlichen genutzt werden, sollen nach Ansicht Unenges auch Eltern in die Pflicht genommen werden. In den vergangenen zehn Jahren sei der Anteil der schwedischen Eltern, die ihren Kindern abends regelmäßig vorlesen, von 75 Prozent auf die Hälfte abgefallen, so Unenge. 'Gerade jüngere Eltern tragen selber die Buchkultur nicht mehr so in sich wie frühere Elterngenerationen. Nach Feierabend werden Filme angeguckt und Facebook genutzt.' "
1. Übungsfelder
1.1 Wahrnehmungsschulung im Kindergarten
Lesen im Sinn von Buchstabenentziffern ist im Kindergartenalter noch nicht vorgesehen. Aber durchaus Lesen als zunehmend genaues Wahrnehmen eines Textes/Musikstücks/Bildes. Nicht das Lesen von Buchstaben steht dann im Zentrum, aber das genaue Hören, das Memorieren, das Nachspielen usw. Das ist die Zielrichtung des Projektes "SBS = Singen-Bewegen-Sprechen". Eine Praxiserfahrung:
Eine Musiklehrerin kommt 1 Stunde pro Woche in eine Kindergartengruppe. Über ein halbes Jahr lang wird im wesentlichen ein einziges Musik- stück behandelt, wobei es dabei den Kindern nicht langweilig wird, sondern sie zunehmend hineingezogen und interessiert werden. Es ging um S. Prokofieff, "Peter und der Wolf" (mit dem Text von Loriot). Das ist insgesamt eine zusammenhängende Geschichte, die genau genug verstanden werden will. Jede der auftretenden Figuren wird durch ein eigenes musikalisches Thema charakterisiert. Nur durch häufiges Hören kann man allmählich die Themen der Figuren sicher voneinander unter- scheiden bzw. auf Anhieb identifizieren. Man kann spielen, wie die Figuren - Anhaltspunkt: der Rhythmus ihres jeweiligen Themas - sich bewegen: der Vogel, der Wolf, die Ente, der Großvater usw. Die Ente darf dann sogar die Zunge herausstrecken (nach Loriot), was besonders gut ankommt. Die einzelnen Themen werden von unterschiedlichen Instrumenten gespielt. Also kann pro Stunde eines dieser Instrumente vorgestellt und erläutert werden (durch hinzugezogene Musiklehrer-Kol- legInnen). Die Kinder dürfen auch testen, ob sie jeweils schon Töne produzieren können.
Effekt: über ein halbes Jahr hin werden die Kinder mit immer neuen Facetten dieses einen Musikmärchens konfrontiert. Es ist unausweichlich, dass sie es am Schluss in- und auswendig kennen: es wurde zu ihrem geistigen Besitz, den sie sicher ihr Leben lang nicht mehr verlieren.
1.2 Sommerakademie-Blaubeuren
Daher sei hingewiesen auf unsere jährliche 'Sommerakademie Blaubeuren. Jeweils vor dem neuen Schuljahr beschäftigten sich Interessierte mit Texten/Bildern/Filmen unterschiedlichster Herkunft und Thematik und trainierten in entspannter Atmosphäre die sorgfältige Beschreibung dieser 'Objekte'. Die Beispiele reichten von biblischen Texten über moderne Gedichte bis zu Hollywood-Produktionen.
Die Veranstaltung ist - alles ist endlich ... - inzwischen eingestellt.
1.3 Abitursaufgaben
Schön regelmäßig wird im Abitur die Aufgabe des Vergleichens (von Gedichten oder Erzählungen) gestellt. - Hier sei eine gewisse Skepsis und Verwunderung festgehalten: Vergleichen setzt voraus, dass - vorausgehend - das Beschreiben des jeweiligen Einzeltextes problemlos gelungen war. Die Alternativ-Grammatik verdankt ihre Existenz dem Eindruck - (anhand von Lehrbüchern überprüft) -, dass an Schulen - gleich welcher Ebene - standardmäßig ein katastrophales methodisches Rüstzeug zum Thema Grammatik, Textinterpretation vermittelt wird. Wenn es gelegentlich Ausnahmen geben sollte, dann ist das schön, aber sie bestätigen dann nur die Regel. Vor solch einem Hintergrund wäre es sinnvoll, die AbiturientInnen würden an einem Text nachweisen, dass sie ihn schlüssig, d.h. methodisch reflektiert, beschreiben können. Das wäre eine ausreichende Dokumentation des Lernerfolgs. Das Vergleichen könnte man sich sparen. Von sorgfältig-bewusstem Lesen ist ja auch immer nur ein Text betroffen. 'Stereo' liest man nicht. "Vergleichen" impliziert das hermeneutisch falsche Signal: Statt der intensiven Konzentration auf einen Text, wird doch wieder der Oberflächlichkeit Vorschub geleistet. Das Hin-und-herhüpfen beim Lesen zerstört, was literarisch anspruchsvolles Lesen ermöglichen soll: die höchst differenzierte Bewegung, in die ein Text einen hineinnimmt, nachzuerleben. Nur davon haben LeserInnen auch persönlich einen Gewinn, nicht vom verkopften Vergleichen. - Gegenläufige Debattenbeiträge dürfen gern hier angefügt werden!
1.4 Vorlesen => Lesen
Die SWP vom 20.11.2014 widmet eine ganze Seite dem Thema. Daraus zwei Auszüge:
1.4.1 Was wollte uns der Dichter sagen ?
Und wir schlagen auf, Kabale und Liebe, Akt 2 - was sagt uns Satz xyz über die Wertevorstellung des Bürgertums zu Zeiten des Sturm und Drang? Warum wundern sich Lehrer, wenn sie angesichts dieser Aufforderung in leere Augen blicken, wenn der Großteil der Klasse sich dem Stupor ergibt und nur ein, zwei Hände sich gnadenvoll recken, um die Frage zu beantworten? Falls die Schüler das Drama Friedrich Schil- lers überhaupt gelesen haben - wozu gibt es wikipedia und Interpretationshilfen? -, in guter Erinnerung haben die meisten den Klassiker eher nicht. Geschweige denn, dass sie mal freiwillig einen lesen. Oder überhaupt noch lesen. Es gibt Menschen, die haben ein solches Deutschunterrichts- Trauma, dass sie bei Erwähnung bestimmter Werke schreiend davon laufen. Bevor nun alle Deutschlehrer rachesinnend Luft holen - sie sind natürlich nicht schuld. Der Lehrplan, die bücherfeindliche Gesellschaft, das sind die wahren Schuldigen. Schüler würden schließlich auch ohne Deutschunterricht nicht Schiller, Goethe oder gar Kleist lesen. Was also tun? Interessant wäre das Experiment, die Schüler vor die Wahl zu stellen, ob sie lieber ein Buch lesen oder zehn Gleichungen lösen. So richtig fiese. Vielleicht würde der ein oder andere feststellen, dass Schiller gar nicht sooo übel ist. Und nun, liebe Mathe- lehrer: tief Luft holen!
1.4.2 Lesen lernen
... beginnt nicht in der ersten Klasse, sondern schon viel früher, im Kleinkindalter. Dieser Meinung ist Prof Jürgen Belgrad... Er hat bereits an Grund- wie Hauptschulen und an Gymnasien das Leseverhalten der Schüler erforscht - und auch wie sich Schüler verhalten, wenn ihnen vorgelesen wird. Sein Credo: "Vorlesen ist der Schlüssel zur Leselust." Wird Kleinkindern vorgelesen, erfahren sie Zuwendung der Erwachsenen und Zeit. Belgrad: "Erziehung wird oft abgegeben an den Fernseher, an den Computer." Wer hingegen seinen Kindern vorliest, der zeigt: Ich will Zeit mir dir verbringen. Was ich hier mache, das lohnt sich. In dieses "Bett des literarischen Grundinteresses" (Belgrad) wird dann das Lesenlernen gelegt. Ein Ausgangspunkt für sein Forschungs- projekt war, dass bei Untersuchungen gezeigt wurde, dass die Lesekompetenz der Grundschüler (Iglu-Studie) gut sei, jedoch in der Sekun- darstufe abnimmt (Pisa-Studien). "Offen- sichtlich denken Lehrer, Kinder ab Klasse 5 können lesen", sagt Belgrad. Doch Lesen, sofern es nicht ständig geübt werde, könne man wieder verlernen. Das scheint oft bei Schülern in weiterführenden Schulen zu passieren. Belgrad hat im groß angelegten Forschungs- projekt in den vergangenen vier Jahren 21 000 Schüler untersucht. Er hat ihnen von ihren Lehrern regelmäßig vorlesen lassen, drei bis vier Mal in der Woche zehn bis 15 Minuten. Ein Ergebnis ist, dass alle Schüler vom Vor- lesen profitieren. Die Lesefertigkeit und das Verstehen der Texte verbessern sich. 92 Prozent aller Schüler fanden nach Ab- schluss der Untersuchung das regelmäßige Vorlesen "gut" und forderten es nach dem Projekt weiter ein. Lehrer sagten, dass das Vorlesen die Atmosphäre deutlich ver- bessert habe. "Ruhe und Konzentration nehmen zu", sagt Belgrad. Und: Auch die Jungs lieben das Vorlesen. Belgrad zieht diese Erkenntnis aus seinen Studien: "Die Schulen müssen mehr Angebote einrichten, dass Schüler gerne lesen." Etwa in Form von Leseecken, in denen Schüler gerne schmökern. R. geht noch weiter. Er fordert, dass Lesen ein eigenes Unterrichtsfach sein müsste. Etwa das Vorlesen, bei dem einer nach dem andern aus der Klasse laut vor- tragen müsse. Schlechte Vorleser würden dabei schlecht aussehen. Aber: "Der Deutschunterricht, so wie er jetzt ist, dient eher dazu, das Lesen auszutreiben." Oft würden sich Lehrer nicht mit aktuel- ler Lektüre auskennen. Wenn Bücher gele- sen werden, dann sollten Lehrer die Bücher nicht verordnen, sondern die Schüler wie in einem Casting darüber entscheiden lassen. "Da sind dann auch die Jungs dabei." Nur: "Für Lehrer macht das natürlich mehr Arbeit."
1.4.3 Vorlesen lernen
Impulse aus: A. Vielau, Methodik des kommunikativen Fremdsprachenunterrichts. Internetpublikation. S.119f.
"Ein guter Vortrag verlangt gesichertes Textverstehen, eine weitgehend automati- sierte Aussprache und die Kenntnis proso- disch-rhetorischer Mittel (um sich ange- messen auf die Hörer einstellen zu können) ... Wie schwierig das sinngestaltende Lesen/Vortragen sogar in der Erstsprache ist, wird bei öffentlichen Vorträgen oft genug demonstriert. ... Der Lernende steht beim Vorlesen vor einer doppelten Aufgabe: Er soll die laut- richtige Artikulation (re)produzieren und den Lesetext zumindest in Ansätzen prosodisch gestalten (also nicht leiernd gleichförmig, sondern sinn- und ausdrucksorientiert lesen). Der zweite Teil dieser Aufgabe fällt leichter, wenn in Sinnabschnitten gelesen wird bzw. wenn die Leserollen den Dialog- rollen entsprechen. ... Als Lernarrangement hat sich ein 'Dreierschritt' bewährt: * Der Text wird im Plenum exemplarisch 'angeübt'. Damit ein brauchbares Muster entsteht, lesen hier eher die Stärkeren vor. * Im zweiten Schritt wird der Text je nach Zahl der Dialogrollen in Partner- oder Gruppenarbeit eingeübt. Die Gruppen arbeiten parallel, jeder liest jede Rolle mehrfach; die Mitglieder korrigieren sich wechselseitig. Der Kursleiter wandert von Gruppe zu Gruppe, hört besonders bei den Schwächeren zu, mischt sich jedoch nicht ein. * Im dritten Schritt wird das Ergebnis von ein oder zwei (schwächeren) Gruppen zur Kontrolle für alle im Plenum vorgetragen: Dabei werden verbliebene Fehler korrigiert und offene Fragen behandelt. ... Schwächere Lerner neigen dazu, nicht sinndar- stellend, sondern 'leiernd' zu lesen. Wer die Aufgabe als schwierig empfindet, konzentriert seine Aufmerksamkeit spontan zu sehr auf die lokale Planung von Lautbildung und Artikulation; die simultane Globalplanung (sinndarstellender Ausdruck) tritt in den Hintergrund. Die Forde- rung, beides zugleich zu beachten, überlastet die kognitiven Ressourcen. Wird der Lesevorgang nun noch bei jedem Fehler unterbrochen, und direkt an Ort und Stelle korrigiert, so verstärkt sich die Neigung zur Lokalplanung. Die Augen eilen der Artikulation nicht mehr voraus, der Vortrag stockt und 'holpert'. Der Tipp, die Augen vorauseilen zu lassen, erst den Satz zu denken und dann zu sprechen, wirkt hier manchmal Wunder. Der Lesevortrag sollte nicht unterbrochen werden, korrigiert wird erst nach Abschluss des Vortrags, even- tuell durch ein kurzes Echosprechen. ... (häufig wird das Leiern durch das Auswendig- lernen eher noch verstärkt).!" Vgl. auch [11]
1.4.4 In den Schlaf lesen
Vgl. [12] Im dazugehörigen Interview mit dem Psychologen Forssen-Ehrlin in Spiegel 43/2015 wird u.a. hervorgehoben die
- Wichtigkeit von Wiederholungen - bei uns vgl. [13] und
- das Achten auf die Bedeutungen von Wörtern/Substantiven, vgl. [14] und [15]
- Auch Negationen sollten vermieden werden, da sie unanschaulich sind, vgl. [16]
Anders gesagt: Vermeiden von allem, was neu und aufreizend ist. Stattdessen Verwendung von Elementen, die langsam und regelmäßig sind, zur Entspannung beitragen.
1.4.5 Man merkt es, ob einer liest
In einem Interview - SWP 13.1.2016 - geht der Kinderbuchautor Paul Maar auf das Thema ein:
Wie führt man Kinder überhaupt richtig an das Kulturgut Buch heran? Vorlesen, vorlesen, vor- lesen? Oder 'Lesen vorleben'? MAAR: Es ist eine Mischung aus beidem. Ich will ein Beispiel nennen: Ich war mal in einer Grundschule zu Gast, da gab es zwei dritte Klassen. In der einen waren die Kinder ganz aufgeregt, dass ein Autor zu ihnen kommt, die haben erzählt, was die Lehrerin alles vorliest, was sie alles lesen, die Lehrerin hat erählt, was sie liest - die Parallel- klasse war das krasse Gegenteil. Keiner hatte wirklich Spaß am Lesen oder Lust dazu. Im Nachgespräch mit dem Lehrer stellte sich dann heraus: Er liest auch zuhause nichts, dafür habe er ja keine Zeit. Da merkt man die Funktion des Vorbilds: Die Lehrerin erzählte ihrer Klasse begeistert vom Lesen, die Unlust des Lehrers überträgt sich hingegen unbewusst auf die Kinder.
1.5 Bildbeschreibung
1.5.1 Rembrandt, Heimkehr des verlorenen Sohnes
Zwar für eine wissenschaftliche Zeitschrift entworfen, ist der Artikel dennoch für 'Normalverbraucher' weitgehend lesbar. Wie bei Texten, so geht es auch bei Bildern (und im übrigen: weiteren Arten von Kunstwerken) darum, sich ihnen durch genaue, strukturierende Wahrnehmung erst einmal zu nähern. Erst wenn das geschehen ist, stellt sich die Frage der Interpretation - bzw. eine solche ist dann schon dabei, sich herauszuschälen. Ohne eine sorgfältige Wahrnehmung klappt das aber nicht. - Vgl. [17]
2. Grundsatzfrage: "Was bringts?"
Die Frage signalisiert zwar oft bockige Ablehnung. Aber sie hat auch ihre Berechtigung. Jede grammatische Arbeit, auch die der Alternativ-Grammatik, verlangt Engagement und Anstrengung. Da darf man fragen, ob sich der Aufwand lohne, oder ob man sich bei all den Reflexionen und Analysen nicht womöglich im Kreise drehe?
2.1 Zirkel oder Spirale ?
In den vergangenen Jahrzehnten war auf philosophischer Ebene häufig der sogenannte "hermeneutische Zirkel" diskutiert worden. Allein der Begriff zeigt schon eine nicht günstige Richtung an: Wenn ich nach etwas frage, kann ich dies nur, wenn ich bereits etwas bezüglich des Gefragten weiß. Wenn ich einen Text lese, verstehe ich ihn doch schon. Was bringt dann noch eine aufwändige Beschreibung und Analyse? Bestätige ich dann in komplizierten Begriffen nur nochmals, was ich ohnehin schon weiß?
Wenn es so wäre, dürfte man nicht für ein aufwändiges und anstrengendes Grammatiksystem werben - gleichgültig welches. Dann könnte man seine Zeit mit anderem sinnvoller verbringen. Aber es war der Franzose Paul Ricoeur, der einen neuen und angemesseneren Blick auf das Thema vorstellte. Es ist das Bild der hermeneutischen Spirale:
- Es ist richtig: Lese ich einen verstehbaren Text, dann habe ich bereits ein erstes Verständnis gewonnen. Das entspricht der Ersten Naivität - ohne viel nachzudenken gewann ich eine Vorstellung von dem, was der Text sagen will.
- Bei alten Texten kann es nun notwendig sein, alle möglichen Recherchen anzustellen über die Geschichte dieses Textes, mögliche Deformationen dabei. Bei modernen Texten ist dieser Schritt - Untersuchung des Textbildungsprozesses meist nicht notwendig.
- Jedenfalls steht nun die Interpretation an. Die Alternativ-Grammatik wäre da mit den Ebenen "Syntax - Semantik - Pragmatik" einschlägig. Es ist im Prinzip unwesentlich, ob die Interpretation auf "wissenschaftlicher" Ebene geschieht, oder auf "schulischer", also altersangepasst und vereinfacht. Auch keine Erwartung spielt eine Rolle, es müsse immer möglichst der komplette Methodenkanon abgearbeitet werden. Schon wer einen Punkt genauer untersucht (z.B. Wie reden Akteure eines Textes miteinander?), beginnt, sich von seiner Ersten Naivität zu entfernen.
Und nun? - Die These von Ricoeur ist, dass man nach der Analyse wieder Abstand vom Text gewinnen kann. Aber: nach der Arbeit zuvor ist man nicht mehr der/dieselbe wie zu Beginn. Es bildet sich eine zweite Naivität heraus, die einiges Zusätzliche zum Text erkannt hat. Der Mensch hat sich verändert. Man kommt nicht mehr zum Ausgangspunkt zurück, sondern eine Stufe tiefer: Erste und Zweite Naivität unterscheiden sich. [18] und [19] Das Verständnis des Textes hat sich vertieft, verbessert. Anstelle des Bildes vom Zirkel passt besser das der Spirale.
2.2 oberflächlich oder sich einlassend
aus: H-J- Ortheil, Der Stift und das Papier. Roman einer Passion. München 2015:
(271f) Was habe ich von den Kommentaren und Fragen der Menschen gelernt, die meine Texte gelesen haben? Dass es schön und gut ist, wenn ein Junge wie ich eine solche Beschäf- tigung hat. Dass eine solche Beschäftigung "von der Straße weg" führt. Und dass noch viel mehr Jungs in meinem Alter aufschreiben sollten, was sie beobachten und sehen. Mehr als so ein albernes Zeug haben die Leute nicht zu meinen Texten gesagt, so dass ich den Eindruck erhielt, dass sie die Texte höchstens überflogen, aber nicht langsam und gründlich gelesen haben. Hätten sie das wirk- lich getan, hätten sie andere Fragen ge- stellt: Hattest Du gar keine Angst vor der Blindschleiche? Hast Du einmal heimlich mit dem Luftgewehr Deines Vaters geschossen? Begleitest Du Deinen Vater manchmal zur Jagd?
(330f) Es ist früher Abend, draußen regnet es, ich schlage das Buch wieder auf, streiche mit dem Handrücken über die geöffnete Seite, setze mich, mache das Licht auf meinem Schreibtisch an und lese den Anfang der Geschichte noch einmal. Langsam, nicht eilend! Satz für Satz! Was ist das für ein Erzählen? Es gibt das schlechte Wetter, und es gibt den Regen. Das alles kommt aber nicht nur in einem Satz vor, sondern in mehreren. Das schlechte Wetter kommt von einem Tag auf den andern (das muss man aus Erfahrung wissen), und wenn es da ist, schließt man nachts die Fenster (das weiß man nicht aus Erfahrung, sondern man weiß es schon immer, es ist selbstverständlich). Warum erzählt es Hemingway aber, wenn es doch selbstver- ständlich ist? Er zieht die Bremse, er will nicht gleich weitererzählen. Er verweilt beim Regen und schaut zu, was der Regen und das schlechte Wetter noch alles mit einem tut: der kalte Wind streift die Blätter der Bäume ab, die Blätter liegen durchweicht im Regen, und der Wind treibt den Regen gegen einen Autobus. Und das alles passiert an einem bestimmten Ort: am place Contrescarpe!
2.3 DIDAKTIK
In Debatten dazu bekommt man es oft mit folgenden Stichwörtern zu tun: SchülerInnen sollen für komplexes Denken befähigt werden, sollen in Zusammenhängen, Vernetzungen sich geistig bewegen können - und das beileibe nicht nur bezogen auf Texte, sondern in den unterschiedlichsten Fachgebieten. - Wie verhält sich Textarbeit in der Form, wie hier vorgestellt, dazu? Dazu lässt sich einiges sagen - aber zuvor erneut die schon mehrfach genannten Einschränkungen:
- Wir reden weiterhin nicht von wissenschaftlicher Ebene, sondern von der schulischen, altersangepasst.
- Das schließt ein, dass jeder Vollständigkeitswahn vermieden wird, d.h. es kann/soll selektiv vorgegangen werden: der eine Text wird verstärkt auf Wiederholungen (Ausdrucks-SYNTAX) untersucht, der zweite auf die Art der Prädikationen (SEMANTIK), der dritte auf die Art der Dialoge (PRAGMATIK), vielleicht zusätzlich - gleiche Ebene - auf die Formen Übertragenen Sprachgebrauchs usw.
So vorgehend und häufiger praktiziert stellen sich verschiedene didaktische Effekte ein:
- Da nie nur Sprachdaten thematisiert werden, sondern immer auch eine Erläuterung der methodischen Ebene, entsteht in SchülerInnen allmählich eine Gesamtvorstellung, wie eine Textbeschreibung mit welchen Aspekten strukturiert sein kann. Damit können SchülerInnen allmählich benennen, was beim aktuellen Einzeltext nicht untersucht wird.
- Je differenzierter man einen Einzeltext analysiert, desto mehr Erkenntnisse - und diese auf unterschiedlichen Ebenen - fallen an. Beim Hören/Lesen z.B. bei poetischen Texten beginnt man zu ahnen, was beim einmaligen Wahrnehmen an Dechiffrieraufgaben auf den Lesenden/Hörenden einströmt: Man muss eine Vorstellung bilden, wie der Text, den man im schulischen Kontext ausführlich analysiert hatte, wohl beim Rezipienten ankommt, was er dort auslöst.
- Zwangsläufig bilden SchülerInnen hierbei Hypothesen und argumentativ können sie benennen:
- Auf welche positiven Analyseergebnisse sich ihre momentane Meinung zum Text stützt.
- Dabei wird es oft so sein, dass sich unterschiedliche Analysen (u.U. auf verschiedenen Ebenen) verstärken.
- Man muss sich aber auch echten oder scheinbaren Widersprüchen stellen.
- Da man eine Vorstellung erworben hat, was bei Texten beschrieben werden kann, kann nun auch benannt werden, welche Typen von Beschreibung noch fehlen, wünschbar wären.
- Das vermittelt praxisnah eine Vorstellung von der Unabschließbarkeit der Beschreibung/Interpretation.
- Gleichzeitig sind die positiv gewonnenen Ergebnisse eine solide Basis des Weiterarbeitens - mit ihnen kann argumentiert werden, sie lassen sich nicht - von anderen mit konträrer Meinung - leichtfertig wegwischen (denen z.B. ein Interpretationsergebnis nicht genehm ist).
Sowohl auf Text- wie auf Methodenebene ist dies eine anspruchsvolle Einübung in komplexes, vernetztes Denken. Das Anwendungsfeld ist aktuell zwar z.B. ein poetischer Text. Die Fähigkeiten, wie damit umzugehen ist, und wie diese sich dabei entwickeln, verbessern, kommen allen möglichen weiteren Fachgebieten zugute.
3. "Ran an den Speck!"
"Speck" = "Text". Die Behauptung ist, dass es im Alltag oder in einzelnen Fächern/Berufen häufig die Beteuerung gibt, man arbeite mit Texten. Bei genauerer Betrachtung stellt sich heraus, dass genau dies nicht der Fall ist. Das Missverständnis kommt zustande, weil man - mal wieder - "Text" und "Wirklichkeit" verwechselt. Einen Text lesend, glaubt man die "Sache", von der die Rede war, kennengelernt zu haben. Fortan wird dann nur noch - textfern - über die "Sache" gesprochen und missachtet, wie der Text seine Inhalte präsentiert hatte. In dem Wie liegen aber viele Erkenntnismöglichkeiten - sie werden dann alle weggeworfen, wenn man selektiv lediglich auf einige Aussagen zur Sache anspringt, den Rest des Textes jedoch übergeht.
3.1 Standardisierte Hilflosigkeiten
Impressionen aus Debattenbeiträgen, die aber alle zum Ausdruck bringen, dass man die fraglichen Texte umgeht wie die Katze den heißen Brei - obwohl bisweilen behauptet wird, man wende sich den Texten zu. Beispiele aus dem religiös-theologischen Bereich - weil dort ja behauptet wird, die heiligen Schriften seien die entscheidende Grundlage der jeweiligen Gemeinschaft.
- Ein Pfarrer lässt in der Weihnachtspredigt das Stichwort "Legende" fallen, ansonsten sagt er zum Text der lukanischen Weihnachtsgeschichte nichts. Das genügt, eine Leserbriefdebatte explodieren zu lassen. Lediglich die Münze "Legende" unters Volk zu werfen, ist didaktisch unklug. Wäre der Redner aber auf den Text näher eingegangen, hätte er plausibel machen können, dass 'Sachinformationen' nicht das Interesse des Autors sind, stattdessen soll durch Erwählung und Vorbestimmung die einzigartige Stellung Jesu hymnisch herausgestellt werden. - Daran ließe sich anknüpfen, zumal heutzutage eine derart überbordende Faszination nicht ohne weiteres zu wecken ist. - Fehler beim Umgang mit Texten, die hierbei gemacht werden - vgl. auch 4.75 Todsünden beim Lesen: 1. Zwar bezieht man sich auf einen ganzen Text - in diesem Fall ist jene Predigt gemeint. Thematisiert und problematisiert wird jedoch nur ein einziges Stich- = Reizwort. Der Gedankengang des Gesamttextes wird übergangen. 2. Argumentiert wird so, dass der 'Gegner' mit einer Flut von Bibelzitaten zugedeckt wird. D.h. eigene Beobachtung, eigenes Denken, Ringen um die passenden Begriffe/Beschreibungen bleiben aus. 3. Zum Ausdruck kommt darin ein Autoritätsproblem: an die Stelle eines eigenen Nachdenkens, klinkt man sich ein in die Sprechweise der eigenen Glaubensgemeinschaft (mit Bibelzitaten kann man nichts falsch machen ;-) - so mag sich mancher unbewusst denken). Der Sprecher löscht zwar seine eigene Persönlichkeit aus, gewinnt damit aber - vermeintlich - die Phalanx von rechtgläubigen Mitstreitern. Über Quantität soll der Streit entschieden werden, nicht über die Qualität der Debatte.
Ein Gespür für "Übertragenen Sprachgebrauch" ist über viele Details zu wecken, vgl. [4.113 Übertragener Sprachgebrauch - Übergang zur gemeinten Bedeutung] (mit Unterpunkten.
- Jedenfalls wehrt sich ein Naturwissenschaftler gegen "Legende" und gegen die Zumutung, ein ganz anderes "Wirklichkeitsverständnis" beim biblischen Text unter- stellen zu müssen. - Man beachte: Wer nur auf der Ebene von Abstrakta und Sammelbegriffen diskutiert, bleibt auf ideologisch-philosophischer Ebene - nur dass auf dieser Schiene nicht weiterge- fahren wird: es wäre durchaus lohnend sich darüber zu unterhalten, was der Naturwissenschaftler unter "Wirklichkeit" versteht. Er übersieht, dass jeder sich seine "Wirklichkeit" geistig konstruiert. Er übersieht auch, dass die Weihnachtsgeschichte ebenfalls eine solche Konstruktion ist. Man kann nicht mit dem Gegensatz: objektiv vs. subjektiv arbeiten, Sachinformation vs. Poetik. Kurz: Man ist in ideologischen Grabenkämpfen gelandet (z.B. liberale Position vs. Pietismus). Über den Text selbst hat man sich nicht ausgetauscht. Dabei gäbe es in diesem viel zu entdecken. Mal wieder: Dogmatische Grundpositionen haben den soge- nannten 'heiligen' Text verdrängt. - Im übrigen: Biblische Texte mit Gattungsbegriffen zu erfassen - z.B. "Legende" -, die man z.T. aus der Germanistik übernommen hatte, ist ein alter Hut (formgeschichtliche Methode - vor mehreren Jahr- zehnten). Es ist längst erkannt, dass damit keine Beschreibung des Einzeltextes möglich ist. Der wird vielmehr durch das Sammeletikett missachtet. = Das genaue Gegenteil eines respektvollen und aufmerksamen Umgangs mit dem Text. - Ein Sammelband im Bereich "Praktische Theologie" (z.B. Religionspädagogik) ringt in vielen Beiträgen darum, dass den Kindern neue Erfahrungen ermöglicht werden sollen, gerade auch fremde. Also solle die Welt der Bibel, deren Wirklichkeitsverständnis - vgl. vorletzten Punkt! -, vermittelt werden. Als Zielvorstellung ließe sich dies auch hermeneutisch problemlos rechtfertigen. Das ist ja gerade der entscheidende Effekt bei Poetik (analog bei anderen Künsten) - aber nur, wenn ich detailliert mit dem gegebenen Text ringe -, dass ich allmählich einen neuen Erfahrungstyp kennenlerne, und der damit die Chance bekommt, meine eigene, bisherige innere Struktur zu verändern. Aber genau diesen Schritt machen die Religionspädagogen nicht: Sie diskutieren lang und breit und hoch abstrakt über die Zielvorstellung. Bei der Frage der Umsetzung sind die Praktischen Theologen jedoch vollkommen unpraktisch. Keiner kommt auf die Idee, dass für das Ringen mit den biblischen Texten (=Analysieren) womöglich - altersangepasst - literarisches Handwerkszeug nötig ist, eine Methode, die nicht mit den ach so beliebten 'freien Assoziationen' verwechselt werden darf ("Was fällt euch zu diesem Text ein?"). Man müsste sich fragen, wo im Studium die angehenden Lehrer dieses Handwerkszeug lernen. In der Exegese jedenfalls - bislang - nicht. An diesem Punkt würde sich entscheiden, ob der jeweilige Text als eigenständiges und zunächst fremdes Gegenüber eingebracht, oder als billiger Aufwärmer benutzt und anschließend missachtet wird.
Häufig anzutreffen ist beim Thema "Heilige Schrift" eine Auseinandersetzung auf einer Meta-Ebene: hochabstrakt, ideologisch befrachtet, schnell Verdächtigungen anderen gegenüber einschließend, angesichts der realen Texte eine große Hilflosigkeit oder ein Desinteresse offenbarend - man glaubt oder behauptet, diese ja alle gut genug zu kennen. Wozu sich also mit den sprachlichen Details beschäftigen? - Auf dieser Ebene lassen sich leicht Mitstreiter oder Gegner finden. Durch Debatten in dieser dünnen Luft kann man sich profilieren - mit den realen Texten hat dieses Getöse nichts zu tun. Und im Fall von Pädagogik: SchülerInnen bekommen keine literarische und lebenspraktische Handreichung.
3.2 Smartphone statt Rembrandt
Ein großes Foto zeigt in SPIEGEL 13/2015 eine Schulklasse vor der "Nachtwache" in Amsterdam sitzend, alle mit ihrem Smartphone beschäftigt. Von den 12 erkennbaren Jugendlichen schaut keiner das Meisterwerk selber an. Auszüge aus dem Artikel "Das Volkslaster":
(63) Psychologe Montag glaubt, das iPhones und andere Geräte zunehmend zu einer "Produktivi- tätsbremse" werden. Nicht nur, weil sie kör- perliche Schäden verursachen können. Sondern auch, weil starke Smartphone-Nutzung den Schulunterricht stört und jeden Tag Mil- lionen Stunden Arbeitszeit mit den Geräten verplempert werden. Laut einer US-Studie beschäftigt sich jeder vierte amerika- nische Arbeitnehmer während eines durch- schnittlichen Arbeitstags etwa eine Stunde lang mit seinem privaten Smartphone. ... Wie Raucher, die regelmäßig zum Qualmen vor die Firmentür schleichen, nutzen sie offen- bar jede sich bietende Gelegenheit, um zum Smartphone zu greifen ... Polizei und Verkehrsverbände wollen zukünftig mit häufigeren Kontrollen und Info-Kampagnen gegen die Unsitte vorgehen, SMS-lesend und damit praktisch blind durch die Gegend zu fahren. "Der Widerstand gegen die ausufernde Nutzung wächst", sagt M. In öffentlichen Gebäuden, Restaurants und in Zügen würden mehr handyfreie Zonen einge- richtet. Er ist sich sicher, dass viele Smartphoner selbst unter der exzessiven Nut- zung leiden. ... "In wenigen Jahren wird das Suchtver- halten mit den elektronischen Medien so sanktioniert sein wie das Rauchen", prophezeit der Hamburger Soziologe M.H. "Man wird dann als ungebildet und charakterschwach gelten, wenn man auf sein Smartphone starrt." ... Montag glaubt, dass viele Hardcore-Nutzer den Blick auf die Welt wieder komplett neu lernen müssen. Als er einigen Bekannten kürz- lich vorschlug, im Bus oder in der Straßen- bahn einfach mal aus dem Fenster zu schauen anstatt aufs Display des Smartphones, erntete er Unverständnis. "Die haben mich angeguckt, als tickte ich nicht richtig."
4. Empfehlung des Lesens (Wortsinn) als Warnung vor dem Lesen (gemeinte Bedeutung)
4.1 Römischer Weltkatechismus
Trickreich kann man beides verkünden - d.h. die Theologen beherrschen - ob bewusst oder unbewusst - das, was wir hier propagieren: bei sprachlichen Äußerungen sind meist mehrere Bedeutungsebenen im Spiel. Schlecht dran ist der, der immer nur die Wortbedeutung vernimmt - vielleicht weil er durch Autoritäten und Pomp eingeschüchtert ist.
- Einführung in den folgenden Essay: [20]. Teile daraus wurden 2002 im SWR gesendet.
- Interessierendes Thema: [21] = Empfehlung und zugleich Abwehr des eigenständigen Lesens.
4.2 Reformatorische Rückwendung zum "Wort Gottes"?
Das war zumindest der Anspruch Luthers. Der Reformator wollte durch eigenes Lesen der 'Schrift' die Menschen stärken, sie zu einer eigenen inneren Position finden lassen, so dass sie nicht mehr der kirchlichen Dogmatik hilflos ausgesetzt seien. - So weit, so gut.
Aber gerade im reformatorischen Kontext kann man häufig erleben:
- Die realen Texte der Bibel werden mit "Wort Gottes" verwechselt. Letzteres ist ein Sprachbild - vgl. [22] -, also letztlich ein dogmatischer Begriff: den kann man - etwas sarkastisch gesagt - ins Spiel bringen auch dann, wenn man die realen Texte allenfalls überfliegt, auf keinen Fall genau anschaut, wenn man sich mit den 'realen Wörtern' gar nicht abgibt.
- "Wort Gottes" besteht dann aus einigen dogmatischen Setzungen: z.B. Verweis auf 'Gottesliebe' oder 'Nächstenliebe'. Und diese Versatzstücke werden in die Diskussion eingebracht, auch wenn der reale Text, um den es aktuell gehen soll, sie gar nicht thematisiert.
- Dieses "Haben" einiger ideologischen und für einen selbst persönlich wichtigen Merkmale geht einher, mit einer oft erstaunlichen Unkenntnis des Werdens der biblischen Schriften. In einer Gemeinschaft, die sich dezidiert auf das 'Wort der Schrift' beziehen will, eine auffallende Diskrepanz.
- Die Kenntnis des Entstehens der biblischen Texte würde helfen, die konkreten Menschen, ihre Lebensumstände und Interessen, einzubeziehen, die zur Abfassung der Texte führten. Die Texte würden geerdet - es genügt dann nicht mehr, geistig bequem auf 'Gott' als Urheber der Schrift zu verweisen.
- Das ursprüngliche Kommunikationsgeschehen käme in den Blick, von dem der Einzeltext nur ein Bestandteil ist. Daraufhin kann man vergleichen, ob das Lösungsangebot des Textes für die heutige Lebenssituation noch passt. Die Abkehr von einer abstrakten dogmatischen Sicht hätte begonnen.
- Nebenbei: In den vergangenen Jahrzehnten fiel die protestantische Bibelwissenschaft nicht dadurch auf, dass sie sehr detailliert biblische Texte beschrieben hätte. Aber genau dadurch - so sollte man meinen - müsste sie sich auszeichnen, wenn sie ihrem 'Urvater' folgen wollte.
4.3 Josefsgeschichte - unbeeindruckt von aktuellen Erkenntnissen
Vgl. [23] - insgesamt werden 4 Predigten zum Schluss der Erzählung angeboten. Durchweg stehen sie im Widerspruch zu unseren Erkenntnissen, sowohl,
- was den Textzuschnitt angeht - es wird meist so getan, als handle sich um eine Erzählung aus einem Guss;
- literarischer Zugang - Fehlanzeige -. Dass zwischen Erzählwelt und Rezipient ein Autor agiert, seine Schwerpunkte und Steuerungen der Leser/Hörer via Formulierungskunst einbringt, bleibt unerkannt;
- praktiziert wird - textfern - ein gefühlig-inhaltliches Aufgreifen einiger Erzählzüge - tendenziell mit dem Verständnis, es würden reale Geschehnisse ausgebreitet;
- eine Vorstellung von der Eigenständigkeit der sprachlichen Ebene wird nicht greifbar;
- was an Erzählzügen aus dem Text aufgegriffen wird, entspringt dem Belieben des Redners/der Rednerin: m.a.W. keine Vorstellung, was ein Text ist - nämlich ein hochkomplexes geschlossenes Ganzes -, wird sichtbar; 'Text' ist kein Steinbruch, aus dem man folgenlos einzelne Brocken herausbrechen kann;
- und - u.a. - natürlich heißt Josefs Vater in allen Predigt-Texten "Jakob" statt "Israel" - was für die Auslegung eine wichtige Weichenstellung / Vorentscheidung ist.
Sog. "Pastoral" und "wissenschaftliche Exegese" arbeiten komplett aneinander vorbei.
5. Der Spiegel 50/2014: "Lesen und lesen lassen"
Der umfangreiche Artikel passt vorzüglich zum aktuellen Modul. Auszüge daraus werden auf drei verschiedene Unterthemen verteilt:
5.1 Frage des Mediums: Papier oder Elektronik
Der Umsatzanteil von E-books macht bisher kaum 5 Prozent des Buchumsatzes aus, nur jeder zwan- zigste Leser über 14 Jahre liest "zumindest gelegentlich" Bücher auf elektronischen Geräten. Die große Mehrheit der Deutschen liest Texte lieber auf Papier. Warum das so ist? In einer Studie der Univer- sität Mainz aus dem Jahr 2013 gaben alle 56 Teil- nehmer an, daß gedruckte Texte für sie angenehmer zu lesen seien. Angenehm. das heißt vor allem: Leser genießen es, eine Seite zwischen den Fingern zu spüren, sie wollen das Buch anfassen, es rie- chen können, sie wollen das Geräusch hören, wenn sie eine Seite umblättern, sie wollen ein Gefühl dafür behalten, wie viele Seiten sie bereits gelesen haben und wie viele noch vor ihnen liegen. Beim Lesen werden auch Hirnareale angesprochen, die für das räumliche Denken zuständig sind, weshalb wir uns in einem Buch ähnlich wie in einem Raum orientieren. Noch Wochen nach der Lektüre wissen wir, ob eine bestimmte Passage vorn oder hinten, auf einer rechten oder einer linken Seite, oben oder unten gestanden hat. Und dennoch: Die Messungen der Augenbewegungen und Hirnströme im Rahmen der Mainzer Studie ergaben, dass das Lesen auf Bildschirmen nicht anstrengender ist als die Lektüre auf Papier ...
Souverän entscheiden die Teenager, welches Trägermedium sie wofür nutzen: Für Chats und um schnell etwas im Netz nachzusehen, greifen sie zu Handy oder Tablet, auch Nachrichten lesen sie digital; auf kurzen Bahnfahrten oder im Dunkeln sind die Geräte einfach praktischer. Wenn es allerdings um das Lesen von Geschichten geht, ist aus Sicht der angehenden Abiturienten Papier unverzichtbar. Diese Situation ist für uns alle neu: Wir können uns heutzutage zum ersten Mal entscheiden - nicht nur, was wir lesen wollen, sondern auch, wie wir lesen wollen. Wer wählen kann, gewinnt Freiheit...
Im digitalen Wandel sieht er vor allem die Mög- lichkeit, die Kosten des Lesens zu reduzieren. Der bessere Kontrast auf den Lesegeräten mit beleuchtetem Hintergrund, die Möglichkeit, Schriftgröße zu verändern, solche Dinge sprechen aus seiner Sicht für das digitale Lesen, ebenso wie die schnellere Verfügbarkeit von Texten. Schröder hat beobachtet, dass durch das Internet die Textmenge zunimmt, die wir lesend bewältigen. auch wer seine Zeit überwiegend auf Facebook, Twitter oder What's App verbringt, liest. Und je mehr wir lesen, desto besser können wir lesen, und desto bewusster lesen wir...
Zweitens, sagt Lobin, wird das Lesen multi- medial. Viel mehr als bisher werden wir nicht nur den Text lesen, sondern dazu Videos, Interviews, animierte Grafiken, Karten, Fotos und dergleichen angeboten bekommen.
Drittens, und das ist die wichtigste Neuerung, wird das Lesen zunehmend "hybrid". Der Computer verwandelt den Text zunächst in eine Bit-Folge, die dann in einen lesbaren Text zurückverwandelt werden muss. Wir können digitale Texte also deshalb nicht ohne Hilfe des Computers verstehen. Das Lesen ist nur noch mithilfe einer Maschine möglich. Schon heute mischt sich der Computer ständig ein. Wörter werden vom Computer vervollständigt, Suchanfragen selbststän- dig ergänzt, der Computer schlägt Wörter vor und verweist darauf, was andere Leser interessant fanden. Er erobert dadurch den Raum, der sich zwischen uns und dem Text aufgetan hat - in dem Maße, in dem wir dem Computer Aufgaben überlassen, er- mächtigen wir ihn, das Lesen für uns zu steuern. "In der nun beginnenden Digital- kultur leben wir Menschen in Symbiose mit den Maschinen, sind auf Geheih und Verderb von ihnen abhängig und dadurch zum Spiel- ball der technischen Evolution geworden", schreibt Lobin. Das hat praktische Kon- sequenzen. Denn der Computer hilft uns nicht nur beim Schreiben, er übernimmt auch unser Denken bereitwillig. Ähnlich wie er Buchstaben zu Wörtern ergänzt, indem er berechnet, was wir schreiben wollen, ergänzt er Sätze zu Gedanken, indem er berechnet, was wir am liebsten denken. Die Folge: geschlosssene Kreis- läufe, sich selbst verstärkende Systeme wie Facebook, auf denen wir nur noch finden, was uns gefällt...
Künftig werden wir immer weniger linear lesen, von oben nach unten, von vorne nach hinten vom Anfang zum Ende. Wir erschaffen die Reihenfolge selbst, wir werden quasi zu Ko-Autoren eines Textes, und die größten Player des Internets, ob Amazon, Google oder Facebook, werden versuchen, uns dabei nach Kräften zu unterstützen. Beim digitalen Lesen wird es künftig nicht mehr nur eine Textfassung geben, sondern viele Versionen eines Textes, die, ähnlich den wikipedia-Einträgen, fortlaufend ergänzt, korrigiert und aktualisiert werden. Unser Leseverhalten wird direkt auf die Texte zurückwirken. Und jeder Text ist nur der Entwurf für den nächsten. Die Folge von alldem: Gebrauchstexte werden künftig noch flüchtiger, unkon- zentrierter, weniger vertieft gelesen als heute. Das Gebrauchs- und Nutzlesen der Zukunft erfolgt nebenher, als Teil einer umfassenden Kommnikation. Im Umkehrschluss bedeutet das: Texte werden einfacher zu konsumieren sein, die Sätze werden kürzer, die Gedanken weniger komplex. Gut möglich, sagt Lobin, dass es für zukünftige Generationen un- möglich sein wird, den Argumentationsboten beispielsweise von Kants "Kritik der reinen Vernunft" verstehen zu können.
5.2 Wie soll/kann man lesen? Abläufe der Wahrnehmung
Maryanne Wolf, die amerikanische Neuro- wissenschaftlerin, bezeichnet dies als "einzigartigen Aspekt des Lesens". Er zwinge unser Gehirn dazu, "neuronal und intellektuell verschlungene Wege" zu gehen. Das wiederum rege "analytische und kreative Aspekte des Verstehens" an. Übersetzt in die Sprache eines lesenden Mädchens oder eines lesenden Jungen heißt dieser Satz: "Das Buch ist echt spannend." ...
Was das Kind liest, ist zunächst nicht wichtig, vielmehr geht es darum, den "Flow" des Lesens zu erhalten, dafür zu sorgen, dass die anfängliche Begeisterung nicht verfliegt, und das Gefühl zu stärken: Ich kann das gut. Anfänger lesen etwa 70 Wörter pro Minute, erfahrene Leser bringen es mit etwa 250 Wörtern auf ein über dreimal so großes Pensum. Doch was geschieht genau beim Lesen? Weil der Ausschnitt, den das mensch- liche Auge wirklich scharf sehen kann, sehr klein ist (wir erfassen etwa drei bis höchstens acht Buchstaben mit einem Blick), hüpft unser Auge durch den Text. Wir stellen den Fokus etwas weiter ein und erkennen Ober- und Unterlängen von Buchstaben; und noch etwas weiter, dann erkennen wir, wann eine Zeile endet. Unser Blick fängt also lauter Puzzle- teile ein, die unser Gehirn zu einem Gesamtbild zusammenfügt. Auf diese Weise suggeriert es uns, Lesen sei ein konti- nuierlicher Vorgang. "In Wahrheit sehen wir wie bei Stroboskoplicht in der Disco", sagt Max-Planck-Forscher Sascha Schröder. Und wir sind sehr gut darin. Es ist keineswegs so, dass wir beim Lesen brav Wort für Wort abarbeiten. Fortgeschrittene überspringen 40 Prozent aller Wörter komplett. Dazu gehören vor allem Artikel und Präpositionen, kleine Wörter, die wir zwischen den größeren Wörtern problemlos wegsaugen oder gleich selbst einsetzen wie in einen Lückentext. Geübte Leser korrigieren ein Wort auch dann, wenn ein Druckfehler aus "Band" das "Bnad" gemacht hat ...
Schneider hat beobachtet, dass sich Gym- nasiasten mit vielen Texten schwertun, vor allem mit älteren. Mitunter, wenn sich die Schüler mit Sprache und Inhalten ab- mühen, lässt er einen Stuhlkreis bilden, "zum verlangsamten Lesen". Es gehe ihm um "Fremdheitstoleranz", sagt er. Er will steigern, was er "Anstrengungsbereitschaft" nennt. Der Ansatz des engagierten Lehrers ist neugierig-pragmatisch: "Du willst nicht lesen? Das finde ich interessant." Sein Job, sagt er, bestehe vor allem darin, "Zugänge zu legen", die Fähigkeit zu fördern, "sich zu vertiefen". Und diese Art zu lesen ist tatsächlich in Gefahr. Wo immer mehr Menschen immer schneller und immer mehr lesen, wo es auf Zeitmanagement ankommt, wird die konzentrierte Lektüre an den Rand gedrängt. Die Magie des Lesens droht zu verschwinden. Gerade weil der Anteil an Gebrauchstexten wächst, ist es wichtig, die Rückzugsräume bewusst zu verteidigen. Schneider will seinen Schülern einen Reichtum verschaffen, "so dass sie aus sich schöpfen können". Lektüre als Gedankenarbeit - es hat den Anschein, als kämpften Menschen wie Schneider eine Art Rückzugsgefecht. Denn die Bedeutung der Maschinen wird zunehmen. ...
Christiansen bietet an, sich an einzelnen Abenden im Monat mit anderen Besuchern in der Buchhandlung einschließen zu lassen. Einige Stunden lang kann man dann in Ruhe in den vorhandenen Büchern schmökern. Die Geschäftsführerin Nicole Christiansen und ihr Team stellen Wein und Wasser hin, doch ansonsten lassen sie die Kunden an diesem Abend allein in der Buchhandlung, allein mit einigen Hundert Büchern. Verkauft wird nichts, nur gelesen und geredet. Manche Besucher kommen allerdings am nächsten Tag wieder, um ganze Stapel zu kaufen. Geklaut wurde noch nie etwas. Bei Christiansen werden auch sieben verschiedene Literaturkreise für Jugend- liche und Erwachsene angeboten, es gibt Autorenlesungen und Veranstaltungen, bei denen die Buchhändler ihre Lieblingsbücher vorstellen. Wenn jemand ein Buch bestellt, telefonisch oder auf der Internetseite der Buchhandlung, dann wird es ihm auf Wunsch am nächsten Tag mit dem Fahrrad vorbeige- bracht.
5.3 Was spielt sich im Lesevorgang in mir ab?
Es geht darüber hinaus um die Erfahrung, das eigene Bewusstsein zu verlassen und in das Bewusstsein einer anderen Person, einer anderen Kultur, eines anderen Zeitalters einzutauchen. Aus einer völlig fremden Perspektive auf die Welt zu schauen, aus dem Blickwinkel eines verwaisten jungen Zauberers aus England etwa oder dem einer schwermütigen Landarztfrau in der Mitte des 19. Jahrhunderts. "Durch diese Konfrontation erfahren wir zugleich die Gewöhn- lichkeit und die Einzigartigkeit unserer Ge- danken", schreibt Maryanne Wolf. "Wir sind Individuen, aber nicht allein." Letztlich stimmt mithin, was Eltern und Lehrer von jeher behaupten: Lesen erweitert den Horizont...
"Lesen bedeutet Begegnung", sagt Nicole Chris- tiansen. Eigentlich ganz einfach. Lesen ist Kontaktaufnahme: zum Autor, zu Figuren, zur Welt. Und daran wird sich nichts ändern. Es geht um Begegnungen. Das zeigt sich in den Gesprächen der Hamburger Gymnasiasten aus der elften Klasse von Christoph Schneider und bei der Lektüre der Bücher aus dem Hanser Verlag. Das ist so bei den Grundschülern, von denen Leserforscher Sascha Schröder spricht, die von der Euphorie des Lesens gepackt werden. Beim "tiefen Lesen" nach der Definition von Mar- yanne Wolf. ... Ein Buch, ein Text, ein Gedanke, selbst ein einzelner Satz macht zwei Menschen mit- einander bekannt. Und deshalb gehört dem Lesen, in welcher Form auch immer, die Zukunft.